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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Mauer, an die Gänseblümchen, an die Eidechsen unter den Efeuranken. An den Garten, mein magisches Reich. Und an den Baum in der Mitte. Kurino-Ki. Und eines Nachts, siehst du, da krallte dieser Baum seine Wurzeln in die Erde, riß den Garten in die Luft und verschwand mit ihm. Das war in einer Mondnacht – in jener Nacht, als ich getötet wurde.
    Ich war tot, lag in einem Sarg, den Deckel fest zugezogen. Ich wartete auf dich, ohne Ungeduld und ohne Hoffnung, die Augen fest geschlossen, das Herz zu Eis erstarrt. So etwas ist sehr traurig. Und eines Tages erwachte ich in einem fernen Land, in einem fremden Zimmer, und schaute mit staunenden Augen auf dich.
    Du bist da, bei mir. Ich fühle deine Hand; ich fühle sie jeden Morgen, wenn du mich weckst. Du sprichst ganz leise zu mir, du streichst über meine Stirn mit leichter Hand. So, ja… Ich habe die Gewißheit, daß du mich nur zärtlich berührst.
    Ich habe dieses Glück. Ich kenne deine Hand wie meine eigene. Und auch die Stimme, die zu mir spricht, ist nicht deine Stimme. Was sagt sie, diese Stimme?
    Was sagt sie nur?
    Ich schlug die Augen auf. Über mir hing der Vollmond, ein kalter Diamant, im Netz der Zweige gefangen. Der Baum hielt den sechsten Mond fest, machte ihn mir am letzten Tag zum Geschenk. Im Mond wohnt eine starke Kraft. Man kann sich diese Kraft gefügig machen. Es gibt Menschen, die das können.
    »Juliesan!« flüsterte die Stimme.
    Ich sah zur Seite. Der Umriß eines Gesichts zeichnete sich im blauen Licht ab.
    Die Lippen waren dunkel und verkrustet, die Nase war scharf geschnitten, mit sehr engen Nasenlöchern. Die Haut spannte sich wie Holz über die hart hervortretenden Wangenknochen. Als ob der Baum eine menschliche Gestalt angenommen hätte, die Gestalt einer alten Frau.
    Verstört richtete ich mich auf, strich mein Haar aus der Stirn.
    »Ach, Kimikosensei! Gomennasai… Ich glaube, ich habe geschlafen.«
    Sie kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf in den Wind. Ich sah, wie sich ihre schmalen Nasenflügel blähten. Sie gab mir ein Zeichen zu lauschen. Als 534
    ich den Kopf hob, glitt der Mond aus den Maschen der Zweige, wanderte über die Krone hinweg weiter in den Himmel. Er zog einen Schatten über den Boden wie ein nachschleifendes Netz. Mit einem Mal war mir, als ob mein Herz nicht mehr innerhalb meines Körpers schlüge, sondern irgendwo draußen, weit weg. Ein neuer Laut; ein sich sammelnder Rhythmus mit Unterbrechung. Trommelschläge: ein Zittern in der Luft, ein schwingendes Pulsieren, das die Nacht lebendig machte.
    Auf Kimikos Haaren schimmerte der Mond. Sie öffnete und schloß die Lider wie eine blinzelnde Katze; der Augapfel blitzte jedesmal auf und erlosch.
    »Der Weg ist offen!« murmelte sie.
    Ich starrte sie an. Was meinte sie damit? Womöglich hatte ich die Worte wieder falsch verstanden. Mein Mund war so trocken, daß mir die Zunge am Gaumen klebte. Der Trommelschlag brachte Bilder mit sich, die irgendwo in der Dunkelheit begannen und kreisförmig heranfluteten. Ich vermochte sie mit meinem geistigen Auge zu sehen, bruchstückweise. Einmal waren sie weit fort wie schwingende Träume, im nächsten Atemzug hell erleuchtet und ganz nahe, so daß ich glaubte, sie berühren zu können. Die Entfernung veränderte alle Wahrnehmungen, Laute und Geräusche. Ich wandte ihnen meine ganze Aufmerksamkeit zu, und bald waren sie deutlicher zu erkennen: Fackeln strömten von allen Seiten herbei, bildeten rotglühenden Schaum längs der Küste und schlossen sich zu einem Kreis.
    Ich sehe sie… oder habe ich sie gestern gesehen – gestern, als das Fest begann? Ich sehe die kindliche Priesterin, ihr weißgoldenes Gewand, ihr herabflutendes Haar, ihren Arm, der die Fackel hält. Sogar aus dieser Entfernung sehe ich, wie der Arm leicht zittert. Ich sehe das alles sehr genau… oder habe ich es gestern gesehen –
    gestern, als das Fest begann? Die Bilder fliegen auf mich zu, Szenen wie in einem Flimmerfilm. Da muß etwas Besonderes in mir sein, das bewirkt, daß ich den Tragschrein auf der Plattform sehe, die getrocknete Seeschlange auf dem hölzernen Tischchen, die Mandarinen und die Reiskugeln. Und die Flügelärmel der Priester, sich bauschend und wehend im Meereswind. Nun schreitet das kleine Mädchen über den Sand; nun steht sie vor den Kultmalen aus Halmen und Stroh. Sie blickt nach oben, ihr Antlitz schimmert im Feuerschein. Der Mond steht jetzt hoch am Himmel, sein Schatten fällt fast senkrecht. Das Kind verneigt sich: eine

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