Silbermuschel
dem Finger seine Brille zurecht.
»Ich kann mich nicht beklagen. Noriko bügelt meine Hemden und Taschentücher, massiert mir den Rücken und steckt mir Fischhäppchen in den Mund, wie eine Vogelmutter ihr Junges füttert. Daneben tut sie, was sie will, kauft ein, ohne mich zu fragen. Hier verwaltet die Frau das Geld, zahlt jede Rechnung, auch wenn auswärts gegessen wird, was jeder völlig normal findet. Der Mann zahlt nur für seine Geliebte. Ansonsten hängt er am Rockzipfel seiner Frau.«
»Eigentlich lustig«, meinte Franca. »Europäische Männer stellen sich Japanerinnen als niedliche Betthäschen vor.«
Charles’ Gesicht war ausgesprochen finster.
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»Es ist alles sehr irreführend. Ich komme nie dahinter, was Noriko eigentlich treibt. Sie gibt Unterricht in französischer Sprache. Anschließend geht sie ins Kino, ins Theater, ins Restaurant. Immer allein, sagt sie, oder mit ihren Schülern.«
»Glaubst du, sie hat eine Affäre?«
»Ich habe sie schon zur Rede gestellt. Sie tat sehr empört und sagte, das Vertrauen des Mannes in seine Frau bestimme das Ausmaß ihrer Treue. Das gleiche gälte auch für mich. Was sollte ich ihr darauf antworten?«
»Sieh du nur zu«, sagte Franca mit düsterem Unterton, »daß du niemals den Hauch eines Verdachts aufkommen läßt.«
»Ich habe auch nichts gegen Abwechslung, in aller Ehrbarkeit und im vertrauten Kreis«, gab Charles trotzig zurück.
»Das nenne ich einen gesunden Standpunkt.«
Franca hielt ihm ihr Glas entgegen, und beide stießen an. Charles kam allmählich in Fahrt und tätschelte Francas Knie. Ich fröstelte vor Müdigkeit und dachte an Noriko. Mir war, als ob ich die leisen Schwingungen ihres Zartgefühls und Stolzes empfing, die weder Charles noch Franca wahrnahmen. Beide genossen die Unterhaltung, empfanden sie als stimulierend. Daß sie auf Norikos Kosten ging, interessierte sie nicht. Wir waren unter uns: Ausländer, »Gaijins«, wie das japanische Wort lautete.
Charles fiel plötzlich etwas ein. Er betastete sämtliche Taschen und brachte einen Umschlag zum Vorschein. »Das Wichtigste hätte ich fast vergessen. Hier, die Eintrittskarten für die Messe, gültig für die Dauer der Veranstaltung. Ihr müßt noch unterschreiben. Hier sind eure Namensschilder. Ferner findet übermorgen eine No-Aufführung statt. Wollt ihr hin?«
»Gerne«, sagte Franca. »Das paßt in meine Sendung.«
»Gut. Ich werde die Karten besorgen. Noch etwas, ich habe für morgen mittag mit einem Freund ein Treffen abgemacht. Michael Boyles ist Amerikaner und schreibt ein Buch. Er lebte einige Jahre in Paris und spricht perfekt französisch.
Jetzt ist er für drei Monate hier und will für westlich Denkende das Phänomen Japan besser verständlich machen.«
Francas Mundwinkel zuckten hinter ihrem Glas.
»In nur drei Monaten? Mich überläuft es kalt!«
»Oh, Michael ist keineswegs dieser Typ!« protestierte Charles. »Er studierte Philosophie und hat ein perfektes Hintergrundwissen.«
Ich erhob mich, indem ich mich auf den Hocker stützte. Ich hatte nur ein einziges Bedürfnis: Schlafen!
»Geh schon«, sagte Franca, »und nimm eine Schlaftablette, sonst bist du nach drei Stunden hellwach.« Charles stand auf, wünschte mir gute Nacht. Franca sah ihn mit einem Lächeln an, das plötzlich etwas anrüchig wirkte.
»Komm, wir trinken noch einen. Auf Kosten des ersten Programms natürlich!«
Im Badezimmer schminkte ich mich ab und bürstete mein Haar. Auf dem Bett 59
lag, schön zusammengefaltet, die blauweiß gemusterte »Yukata«, ein kimonoartiges Schlaf- und Hausgewand. Ich schüttelte die Yukata auseinander.
Das Gefühl der knisternden Baumwolle auf der Haut war ein kühles, nahezu sinnliches Vergnügen. Ich kam mir vor wie neu geboren, so rein, so frisch. Ich entkapselte eine Flasche Mineralwasser und goß ein Glas ein. Dann schüttelte ich eine Schlaftablette aus dem Röhrchen, warf sie auf die Zunge und leerte das Glas in einem Zug. Ich legte mich zu Bett, löschte die Nachttischlampe. Eine Zeitlang atmete ich kurz und hastig, im Rhythmus des Gedankens: »Ich bin da, ich bin da! «
Die Klimaanlage schluckte jedes Geräusch. Bläuliches Licht sickerte aus dem Vorhangspalt und zeichnete eine Linie auf der Decke. Sie schien sich wie eine Radspeiche zu drehen, zuerst kaum merklich, dann immer schneller. Eine Weile starrte ich zu ihr empor, mit weit offenen Augen. Als sie zu flimmern begann, schlief ich ein.
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5. KAPITEL
T okio und ich erwachten zur
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