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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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seinen Kaffee ausgetrunken und sah auf die Uhr. »Gehen wir?«
    Er nahm Francas Tasche mit den Aufnahmegeräten an sich. Wir verließen das Hotel. Draußen schob sich eine dreifache Autoschlange an den Ampeln vorbei. Mir fiel die Gelassenheit der Fahrer auf. Kein Hupen, keine Hektik. Die Luft war kristallklar, und die Sonne verschwendete eine nahezu berauschende Lichtfülle.
    Franca setzte ihre dunkle Brille auf. Ich hielt mit beiden Händen mein Haar aus 62
    dem Gesicht, blinzelte in der windigen Helle.
    »In Europa glaubt jeder, daß Tokio in Abgasen erstickt, dabei ist die Luft reiner als am Genfer See.«
    »Geschwindigkeitsbegrenzungen, Katalysator und bleifreies Benzin«, sagte Franca. »Und sieh nur, wie reinlich alles ist. Bei uns werden die Städte dreckiger, in Japan sauberer.«
    »Das bringt nur das Gruppendenken fertig«, sagte Charles. »Tokios Wohlstandsfassade kann einen ganz schön hinters Licht führen. Die Lebensqualität ist niedrig…«
    »Das streite ich nicht ab«, erwiderte Franca. »Veränderungen brauchen Zeit, Geld und konsequente politische Visionen. Aber auch in dieser Beziehung entwickelt Japan neue Wertorientierungen. Kämen solche Denkanstöße aus Amerika, würden sie sich in Europa in Windeseile durchsetzen.«
    »Ich glaube kaum, daß es für uns erstrebenswert wäre, die asiatische Denkungsweise nachzuahmen«, meinte Charles.
    Ich hörte kaum zu; was sie sagten, interessierte mich nicht. Bald gingen ihre Stimmen im Summen des Verkehrs unter. Ohne es zu wollen, versank ich in jenen Zustand, den man für gewöhnlich als geistesabwesend bezeichnet. Hellwach und gleichzeitig träumend, verspürte ich den Eindruck einer völligen Andersartigkeit, gemischt mit dem Gedanken: Das kenne ich, hier fühle ich mich wohl, die Reise ist zu Ende. Diese Empfindung war verwirrend. Es war wie ein Schock, verbunden mit fröhlicher Unbekümmertheit, mit Frische und Freiheit und einer fast kindlichen Neugierde. Ich sehnte mich nach Alleinsein, brauchte Platz und Luft und mich, um alles einzuatmen, aufzusaugen, was ich sah und hörte. Die Menge war eine Strömung, die mich weiterzog und -schob, und ich ließ mich von ihr treiben.
    Gestalten, Gesichter huschten an mir vorbei: Frauen und Mädchen, unaufdringlich elegant oder nach der letzten Mode gekleidet, schritten mit beschwingter Grazie auf hohen Absätzen daher. Das glänzende, tiefschwarze oder kastanienbraune Haar wehte im Wind. Die Gesichter waren perfekt geschminkt, die Augenbrauen leicht überpudert. Die Mehrzahl der Männer trug dunkle Anzüge und helle Hemden. Eine merkwürdige Gleichheit, aber nur auf den ersten Blick. Das Fließende, Temperamentvolle der Menge erinnerte mich an Frankreich, an Italien, an den lebhaften Süden. Etwas jedoch war anders, ungewohnt. Was eigentlich? Plötzlich wußte ich, was es war, und merkte gleichzeitig, wie stark es zu meinem Glücksgefühl beitrug: Die permanente Blick-Aggression, die in südlichen Ländern jede Frau auf Schritt und Tritt verfolgt, war hier nicht vorhanden. Keine Zudringlichkeit, kein abschätzendes Hingucken. Mochte die Menge auch noch so dicht sein, ich empfand nicht die Spur eines Unbehagens. Europäer, dachte ich, würden nervöser, verkrampfter, herausfordernder wirken. In Europa hatte ich oft das Gefühl einer Gefahr. Hier nicht. Überhaupt nicht.
    »Was ist los? Du bist ja so still«, rief Franca mir zu.
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    Ich lächelte sie an, damit sie aufhörte zu fragen.
    »Ich habe nur etwas Kopfschmerzen.«
    »Ach, das ist nur die Umstellung, das geht bald vorbei«, sagte Franca.
    »Und dann auch diese Menschenmenge!« setzte Charles hinzu. »Und alle Straßen sehen gleich aus. Das gibt ein Gefühl der Isolation, dem man sich nur schwer entziehen kann.«
    Das stimmt nicht, dachte ich, das ist überhaupt nicht wahr. Alles kam mir so kunterbunt, so fröhlich, so närrisch vor. In der maßlosen Größe der Stadt, in der verwirrenden Mischung von Unordnung und Formenschönheit, von Phantasie und umwerfendem Kitsch, hatte sogar die Luft etwas Schwirrendes, Durchscheinendes an sich, dem Schillern einer Seifenblase ähnlich. Lampions schaukelten im Wind, Pflanzen, echte oder falsche, blühten in bunten Eimern, die Schaufenster zeigten Mode wie in London, Paris oder Mailand. Die Telefonapparate waren rosa oder grün wie Spielzeug. Vorsintflutliche Elektrizitätsmasten, von Blumenbeeten umgeben, ragten aus dem Asphalt. Riesengebäude aus Glas, Metall und Beton leuchteten in der Sonne. Dann wieder, unter

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