Silbermuschel
Müdigkeit kam wieder, schwappte hoch. Was hatte Charles gesagt?
»Ich habe keine Vorstellungen«, erwiderte ich auf gut Glück.
»Mein Schatz, dann kommst du nicht weit«, seufzte Charles. »In einem Land, wo irrationales Denken vorherrscht, laufen die Gefühle ohne den rettenden Verstand bald Amok!«
Franca brach in Lachen aus.
»Ich glaube kaum, daß Julie das etwas ausmachen würde.«
Die Bar füllte sich allmählich mit Menschen und Lärm. Charles rief die Mamasan und bestellte Whisky für alle. Der Zigarettendunst brannte mir in den Augen.
Ich lehnte mich zurück. Ich träume, dachte ich, daß ich träume. Inzwischen sprach Charles weiter, den Blick zur Decke gerichtet, was Sachverständigkeit und Konzentration ausdrücken sollte.
»Ihr werdet schon sehen, Japan kennenzulernen ist ein ernüchterndes und enttäuschendes Abenteuer. Ich habe hier meinen Job und führe mit Noriko das, was man eine befriedigende Partnerschaft nennen kann. Aber ich würde lieber heute als morgen in die Schweiz zurückfliegen. Hier läuft alles wie am Schnürchen, aber ich fühle mich als Fremder. Japan ist ungastlich, abweisend und kalt.«
»Den Eindruck hatte ich nicht«, meinte Franca. »Ich finde die Japaner sehr herzlich.«
»Mein Schatz, das kannst du nicht beurteilen.« (Charles hatte offenbar den Tick, alle Frauen »mein Schatz« zu nennen.) »Du warst ja nur für kurze Zeit hier.
Wir Europäer sind es gewöhnt, mit unseren Mitmenschen auf gleicher Wellenlänge zu verkehren. Diese uns vertraute Wellenlänge wird von den Japanern nicht wahrgenommen. Unser innerer Kompaß stellt plötzlich ab. Ich persönlich habe noch nie mit einem Japaner einen echten Dialog führen können.«
Franca hob spöttisch die Brauen.
»Nimmst du den Japanern etwa übel, daß sie dich zu keinem Wortorgasmus kommen lassen?«
Charles’ Gesicht verzog sich zu einem mechanischen Lächeln.
»Ich finde das nicht komisch. Lieber gebe ich mich mit einem niedrigen Sprachniveau zufrieden und weiß, was der andere denkt, als daß ich mich mit einem Japaner unterhalte, der mich nicht versteht oder nicht verstehen will.«
»Ich glaube, daß wir oft die Sprache falsch einsetzen«, sagte ich zurückhaltend.
»Wir theoretisieren zuviel. Vielleicht fehlt es uns an Rücksicht.«
57
»Was heißt hier Rücksicht?« Charles schnalzte irritiert mit der Zunge. »Jeder Mensch – und ich rede vom europäischen Standpunkt aus – will ja schließlich seine Mitmenschen erkennen und von ihnen erkannt werden. Hier in Japan rennt er mit der Nase an die Wand. Außerdem wird er als kritischer Mensch bald feststellen
– und diese Verallgemeinerung gestatte ich mir –, daß die Japaner einen Hang zum Kindischsein haben, der einen vernünftigen Mann auf die Dauer kaputtmacht.«
»Du sprichst über Japan wie ein enttäuschter Liebhaber über die untreue Frau«, sagte Franca kopfschüttelnd. »Ich dachte, Noriko hätte dir deine Wahlheimat etwas näher gebracht.«
»Japan wird nie meine Wahlheimat werden! Dabei habe ich mich, weiß Gott, anzupassen versucht. Als ich Noriko in Paris kennenlernte, war ich der glücklichste Mensch auf Erden. Sie war fröhlich, anschmiegsam, las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Auch in Sachen Sex war sie Klasse: nicht zu forsch, aber auch nicht zimperlich. Als wir beschlossen zu heiraten, fürchtete ich, daß ihre Eltern dagegen sein könnten. Weit gefehlt: Norikos Mutter verneigte sich vor mir, kicherte unergründlich und servierte mir grünen Tee. Anschließend nahm mich der Vater in eine Bar mit, wo wir uns zusammen betranken. Er fragte nicht, wieviel ich verdiente und was für ein Leben ich Noriko bieten wollte, sondern ob ich Heidi gelesen hätte und schon mal in Maienfeld gewesen wäre. Das Wesentliche, nämlich unsere zukünftige Ehe, wurde nur nebenbei und als gegebene Tatsache erwähnt. Immerhin vermute ich, daß ich wohlwollend aufgenommen wurde. Jetzt kenne ich die Leute schon seit Jahren und weiß immer noch nicht, ob ich geschätzt oder nur geduldet werde, ob man mich gerne zu Besuch hat oder auf den Fuji-Yama wünscht.«
»Immerhin hat man dir nicht die Hölle heiß gemacht«, meinte Franca. »Und wie steht es zwischen Noriko und dir?«
Charles stieß einen Seufzer aus.
»Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich eine andere Vorstellung vom japanischen Eheleben. Japan war für mich – wie für viele Europäer – eine Art Schlaraffenland für Männer.«
»Wurden deine Erwartungen etwa enttäuscht?«
Charles rückte mit
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