Silbermuschel
abgefallen; alle Dinge auf dieser Erde erschienen mir neu, weil in mir selbst eine Wandlung erfolgt war. Es war ein neues Fühlen in mir, ein Licht, das mich fast blendete. Mein Geist war ein klarer Spiegel, der nichts andeutete, aber auch nichts verfälschte. Mon Amie la Rose war nicht gestorben, als man sie damals tötete. All diese Jahre waren für sie nur ein Traum gewesen, ein sehr langer Traum, mit unbestimmten Schatten bevölkert. Und jetzt war sie wach, vertrauensvoll blinzelnd einem neuen Leben hingegeben. Dem Leben, das niemals endet.
Ich stand auf, erwiderte Kimikos Verbeugung. Mein Knie tat schrecklich weh, und ich wankte. Sie schnalzte verärgert mit der Zunge.
»Damé – schlecht! Du solltest besser aufpassen. Langsam gehen. Und nicht sofort den Kopf verlieren. Du denkst, es sind schlimme Dinge. Da irrst du dich. Es geht ihm gut. Er ist zufrieden jetzt. Du darfst nicht weinen, du mußt glücklich sein.
Und keine Angst mehr haben. Niemals.«
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen.
»Ich will es versuchen.«
»Yoshi – gut! Du wirst es bald lernen.«
Sie kniete vor mir im Halbdunkel und hatte wieder das Gesicht einer alten Frau.
Doch die zeitlosen Augen bewahrten ein Geheimnis, das auch das meine war. Ich werde darüber nachdenken müssen, dachte ich. Später. Jetzt bin ich nicht in der Lage dazu. Scheu, noch etwas befangen, lächelte ich Eric an.
»Ich möchte jetzt zu Ken. Ich kann ihn doch sehen, nicht wahr?«
»Aber sicher«, antwortete Eric. »Er wartet ja auf dich.«
Seine Wangen waren gerötet, und der Blick, mit dem er mich betrachtete, war starr, als gelte er einer Unbekannten.
»Was hast du?« fragte ich. »Du zitterst ja!«
Er zog seine Gummistiefel an und schwieg. Er konnte es mir nicht sagen, aber ich ahnte es. Noch war er betroffen und verwirrt. Das Unvorstellbare, das er mit angesehen hatte, rührte an seiner Seele. Aber bald würde er Kraft und Hoffnung daraus schöpfen. Bald würde auch er die alten Ängste überwinden und wissen, sie kehren nie wieder. Und das sagte ich ihm. Doch er antwortete nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er eines Tages das wissen würde, was ich wußte.
Als Eric die Schiebetür aufzog, wirbelte Sonnenlicht in den Raum. Mein Blick schweifte hinaus ins Freie. Über den Klippen barsten die Wolken auseinander, rissen einen Torbogen auf. Darin funkelte ein tiefes Blau. Und vor diesem Torbogen entfaltete der Kastanienbaum seine tausendjährige Krone und schüttelte seine Zweige im Wind. Auf seinen Blättern glitzerte Sprühregen wie Diamantenstaub. Und zwischen seinen starken Wurzeln schlief die Füchsin 550
friedlich und tief. Sie war nach dieser Nacht sehr müde.
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39. KAPITEL
D ie Klinik war ein Altbau mit breiter Fensterfront und zerknitterten Vorhängen inmitten einer kleinen Parkanlage. Hiro war ziemlich verstört. Ich merkte es an der Art, wie er seine halbgerauchte Zigarette vor der Treppe zu Boden warf. In der Halle standen oder saßen Menschen dicht gedrängt; viele hatten Gepäckstücke bei sich. Die Wände waren grasgrün angestrichen; es roch nach Desinfektionsmitteln. Hiro meldete uns am Schalter an. Wir fuhren mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Hiro starrte vor sich hin; auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen. Schwarze Pfeile auf dem Linolboden zeigten den Weg an.
Vor einer Tür blieb Hiro stehen und deutete auf ein kleines Besucherzimmer, wo ein paar alte Leute saßen.
»Ich warte dort.«
Ich klopfte leise, drückte die Klinke hinunter und trat ein. Es war ein Vierbettzimmer mit niedrigen Wänden, alten Eisenbetten und eisernen Nachttischen. In einem Bett lag halb aufgerichtet ein Kranker unbestimmten Alters. In einem seiner Nasenlöcher steckte eine Plastiksonde. Daneben lag ein Junge mit blassem, verzerrtem Gesicht. So einen mageren Menschen hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Die Knochen traten so stark unter der Haut hervor, daß ich erschrak. Der dritte, ein sehr alter Mann, starrte zur Decke mit strengem, abwesendem Blick und hielt den Mund halb offen. Er sah mich an, als ich in das Zimmer kam. Ich grüßte mit ungelenker Kopfbewegung. Der Mann gab ein Murmeln zur Antwort.
Kens Bett stand etwas abseits, schräg gegenüber von dem mageren Jungen. Es war etwas weg vom Fenster, an der frischgeweißten Wand. Vom Fenster fiel das Licht auf Kens blasses Gesicht, auf den weißen Verband. Neben seinem Bett stand der Infusionsständer, eine Nadel steckte in seinem rechten Arm. Leise trat ich
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