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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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hilft, dachte ich im stillen, das lenkt ab. Jetzt weiß ich, welche Möglichkeiten ich habe, um nicht den Verstand zu verlieren.
    »Ich habe nie gut reden können«, fuhr Eric fort. »Aber ich kann zumindest das sagen, was ich sagen will. Hätte Tetsuo nicht plötzlich Bammel gekriegt, wäre nichts passiert. Nicht das Geringste. Die Flammen konnten Ken nichts anhaben. Er hatte wohl, wie die Japaner sagen, den ›Geist des Feuers‹ in sich aufgenommen.
    Menschen wie Ken sind dazu fähig. Er war ja wie schlafend – in Trance – verstehst du. Als er in die Flammen fiel, kehrte seine Seele in den Körper zurück. Da war er nicht mehr unverwundbar. Und der Schock hatte sein Reaktionsvermögen gelähmt.«
    »Ja, ich verstehe. Und dann?«
    »Zum Glück verlor Nanami nicht den Kopf. Sie packte das Kissen, auf dem Tetsuo gesessen hatte, und erstickte die Flammen. Dann holte sie eine Flasche Mineralwasser, goß sie über der Verbrennung aus. Inzwischen war auch Hiro mit dem Kombi da. Wir fuhren sofort zum Krankenhaus. Kens Arm sah schrecklich aus, aber er sagte, wir sollten uns nicht aufregen, es sei alles halb so schlimm. Er brachte es sogar fertig, Tetsuo zu trösten. Weil Ken so ruhig war, glaubten wir, daß er nach der Behandlung das Krankenhaus wieder verlassen könne, aber der Arzt 548
    sagte, das käme überhaupt nicht in Frage. Also blieb er da. Zu mir sagte er, ich solle dich bei Kimiko abholen. ›Und daß Julie sich bloß nicht aufregt, verstanden?‹
    Okay, Ken, ich erledige das schon. Und später in der Nacht gingen Soon und ich mit einer Taschenlampe an den Strand, um seine Uhr zu suchen. Ken hatte nicht gemerkt, daß er sie verloren hatte. Der Himmel hatte sich bezogen, der Wind trug die Asche fort. Wir suchten nach ihr eine gute Stunde lang, im Regen. Jemand mußte sie gefunden und mitgenommen haben. Oder sie steckte irgendwo im Sand.
    Diese Uhr sei von seiner Schwester, hatte Ken mir mal gesagt. Es mußte eine bestimmte Absicht gehabt haben, als er die Uhr in die Flammen hielt. So was tut man doch nicht unbegründet. Und jetzt ist sie weg. Scheiße, ich bin ganz nervös deswegen.«
    Er drehte wieder den Finger über den Rand der Schale, diesmal ganz langsam.
    Ich zog die Luft ein, wie beim Erwachen aus einer Ohnmacht, und flüsterte:
    »Sieh her, Eric!«
    Ich streckte mein schmerzendes Bein aus, so daß ich die Hand in die Jeanstasche stecken konnte. Meine Finger fanden die Uhr, zogen sie aus der Tasche. Sie war warm von meiner Körperwärme. Ich hob sie hoch, damit Eric sie sehen konnte. Öffnete dann meine rechte Hand, damit er auch die Verbrennung sah. Und dann legte ich die Uhr auf die Wunde. Und beide Kreise, die Uhr und die Verbrennung, waren von gleicher Größe.
    Er starrte mich an.
    In einem sehr warmen, zärtlichen Ton fragte Kimiko:
    »Hast du gesehen, Eric?«
    Er brachte keinen Ton über die Lippen, sondern nickte nur. In seinen Augen war kein Schrecken, nur kindliches Staunen.
    Daß ich weinte, merkte ich erst, als eine Träne auf die Uhr fiel. Ich starrte darauf und schaute erst wieder auf, als ich ein leises Rascheln von Stoff vernahm und Kimiko vor mir auf der Matte kniete. Ich blinzelte sie verwirrt an. Was ich sah, nahm mir fast den Atem. Es war, als ob sich ihr faltiges Gesicht auf geheimnisvolle Weise verjüngte und glättete. Als ob die Jahre von ihr abfielen, wie die Schlange im Frühling ihre Haut abstreift und wie neu geboren in der Sonne erwacht.
    Kimikos Augen leuchteten, nachtschwarz und doch von durchsichtiger Klarheit.
    Ihre Lippen drückten durch den leisen Anflug eines Lächelns so viel Wärme, Zuneigung und Heiterkeit aus, daß ich in den Zügen dieser alten Frau jenen Ausdruck der Unbefangenheit erkannte, den ihr Gesicht am Anfang ihres Lebens getragen haben mochte. Sie senkte ihren Kopf, verneigte sich. Und ihre Verbeugung war nicht die unbeholfene Bewegung einer Bäuerin, die in einem einsamen Berghaus lebt, sondern die wundervolle, feierliche Huldigung einer Priesterin. Aus ihrer Haltung sprach ein tausendjähriger Adel, eine Kultur, so alt wie der denkende Mensch, und ein Wissen, das noch tiefer reichte, in die Zeit des Paradieses, als die Bäume sprachen und die Erde noch jung war.
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    »O Shirasan«, sprach sie langsam und lächelte.
    »Ehrenwerte Helle«, hatte Kimiko gesagt. Ich wußte nicht, was diese Worte bedeuteten. Ihr Echo tönte in meinem Bewußtsein wie ferner Glockenklang. Ken wird es mir schon sagen, dachte ich. Schmerzen und Müdigkeit waren von mir

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