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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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die gleiche rituelle Handlung. Dann wanderten beide auf den Schrein zu. Ich rührte mich nicht. Die Kleine warf mir einen neugierigverhaltenen Blick zu, während der Mann einen Gruß andeutete. Ich lächelte scheu zurück.
    Vater und Tochter stiegen dicht an mir vorbei die Treppe hinauf. Die Stufen waren ziemlich steil; der Vater paßte sich den Schritten der Kleinen an und hielt sie fest an der Hand. Vor dem Opferstock blieben sie stehen. Der Vater zog einige Münzen aus der Tasche und gab ein paar davon dem Kind. Ich hörte das Klirren, als sie das Geld in den Opferstock warfen. An einem dicken Seil war eine Glocke befestigt.
    Das Mädchen packte das Seil, schüttelte es mit aller Kraft. Helles Läuten ertönte.
    Die Kleine klatschte zweimal in die Hände, faltete sie zum Gebet. Ihr Vater tat es ihr nach. Eine Weile verharrten beide mit gesenktem Kopf. Dann verneigten sie sich vor dem Altar und stiegen die Stufen hinunter.
    Ich saß immer noch an der gleichen Stelle. Meine Anwesenheit mochte ihnen seltsam vorkommen. Der Vater neigte zum Abschied nur den Kopf, aber das kleine Mädchen drehte sich mehrmals nach mir um. Dann gingen sie über den Pfad bis zu 75
    dem Rand der Lichtung wie an einem goldroten Vorhang entlang, der von Bäumen und Sträuchern gebildet wurde. Das Licht flimmerte vor meinen Augen, hüllte beide, den Mann und das Kind, in die Maschen eines kupfernen Netzes ein. Dann flossen die Umrisse ihrer Gestalten zu einem Punkt zusammen und wurden von den Büschen verschluckt. Sie verschwanden so plötzlich, daß ich eine fast unerträgliche Leere verspürte. Erst jetzt merkte ich, daß ich weinte. Wie lange schon? Ich wußte es nicht. Die Tränen liefen mir über die Wangen, ich spürte einen salzigen Geschmack auf den Lippen. Ich hatte vergessen, wie es damals war, damals, bevor die Welt der Kindheit sich für mich verschloß und ich noch an das Gute glaubte. Wie viele Jahre waren seit dieser Zeit vergangen, und was war inzwischen mit dem Wort Liebe passiert? Das Wort allein war so restlos heruntergekommen, so beschmutzt, daß ich es kaum auszusprechen wagte, ohne zu weinen. Jetzt – wo alles längst vorbei war – erwachte in meiner Erinnerung über die Jahre hinweg eine Sehnsucht, ein fast unerträglicher Herzenshunger.
    Tränenblind und verzweifelt sehnte ich mich danach, daß ein Mensch mich liebevoll und zärtlich in die Arme nahm, mir noch einmal, ein einziges Mal, das Urvertrauen zurückschenkte.
    Doch dies war nicht möglich; für mich gab es keinen Traum, der mich schützte, keine Hoffnung, die mich heilte. Ich lebte, aber wozu? Ich war voller Schmutz und Narben, voller Blut und Schleim. Zerstört und in Stücke zerbrochen und irgendwie wieder zusammengeklebt wie ein zertrümmertes Spielzeug. Aber das wußte keiner.
    Es wurde plötzlich kühl. Ich wischte mir die Augen trocken, kam unbeholfen wieder auf die Beine. Verließ den Hain mit müden, schleppenden Schritten. Der Weg lag im Zwielicht. Die Äste knirschten und knarrten, hoch oben rauschten die Wipfel, und darüber wölbte sich, klar und gelb, der Himmel. Doch bald schon hörte ich den Verkehr brausen. Busse hupten, Radfahrer klingelten. Hinter dem Torii funkelte das Lichtermeer der Stadt. Während ich unschlüssig über den Platz ging, fuhr ein Taxi vorbei. Ich winkte. Das Taxi hielt an, die Tür sprang auf. Ich stieg ein, gab den Namen des Hotels an. Der Wagen fuhr los. Meine Augen waren tränengerötet, mein Gesicht heiß wie nach einem Sonnenbrand und meine Lippen spröde. Ich lehnte den Kopf an das Polster und weinte still vor mich hin. Was der Fahrer dachte, war mir egal.
    Bei meinem Streifzug durch die Stadt mußte ich, ohne es zu merken, ziemlich weit gegangen sein. Als das Taxi vor dem Hotel hielt, war es stockdunkel. Ich ging rasch durch die Hotelhalle, holte meinen Schlüssel und benutzte den Fahrstuhl. Ich schloß mein Zimmer auf und machte Licht. Die Vorhänge waren schon zugezogen.
    Ich zog mich aus, ging ins Badezimmer. Im Spiegel sah ich mein Gesicht. Unter meinen Augen waren Schatten wie zerdrückte blaue Trauben. Ich putzte meine Zähne, stellte mich unter die Brause. Das heiße Wasser entspannte und beruhigte mich. Hunger hatte ich keinen; ich wollte auch niemanden sehen. Ich trocknete mich ab, schlüpfte in meine Yukata, legte mich ins Bett und löschte das Licht.
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    Kaum lag ich, schlief ich auch schon ein. Irgendwann, im Laufe des Abends oder der Nacht, weckte mich das Läuten des Telefons. Ich nahm den Hörer

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