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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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möchte.«
    »Wann sind Sie wieder im Hotel?« fragte Michael.
    Bleib ganz ruhig. Du hast nichts von ihm zu befürchten. Lächle, wenn du kannst. Lächle, verdammt noch mal! Wie willst du es nur schaffen, gegen deinen Willen mit ihm zu schlafen, wenn du nicht einmal fähig bist zu lächeln? Ich bin allein, ganz allein. Für mich kämpft keiner.
    La petite chèvre de Monsieur Seguin s’est battue toute la nuit contre le loup.
    Et, au matin, le loup l’a mangée.
    Nein. Ich werde mich rächen. Ich schlug die Augen nieder.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich rufe Sie an«, sagte Michael.
    Nach dem Essen also zurück in die Ausstellungshallen. Das Gedränge hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die Besucher umringten die Stände, schoben sich vorwärts, drängten einander beiseite. Überall Licht, Scheinwerfer, Videovorführungen und Musik. Japanerinnen, das Haar zu Schleifen und Locken gebunden, hauchten mit Kinderstimmen Erläuterungen in die Mikrofone. Ich hatte eine Kopfschmerztablette genommen, aber sie wirkte nicht. Franca stellte 72
    unermüdlich Fragen, nahm Erklärungen über Maschinentechnologie, Jahresproduktion, Verkaufsraten und Wachstumsquoten mit dem Tonband auf.
    Charles trottete mit Duldermiene hinter ihr her. Ich wurde immer träger, meine Füße brannten, und nirgendwo war ein Stuhl. Ich mußte weg aus dieser Menschenmenge, hinaus an die frische Luft.
    »Ein faszinierendes Gedränge«, bemerkte Franca, als wir, am Rande des Gewühls, ein Mineralwasser an einer Stehbar tranken. »Hast du immer noch Kopfschmerzen?«
    »Sie werden nicht besser«, sagte ich. »Ich glaube, ich mache einen Spaziergang.«
    »Einen Spaziergang, allein?« rief Charles. »Wie willst du dich in Tokio denn zurechtfinden?«
    »Ach, laß sie doch«, meinte Franca. »Sie ist schließlich kein kleines Kind mehr. Wenn sie sich verirrt, nimmt sie ein Taxi.«
    Die Rolltreppe brachte mich nach unten. Ich ging über die marmornen Fliesen der Halle wie über eine glitzernde Wasserfläche. Vor mir schwangen Türflügel auf; das Nachmittagslicht schlug mir wie eine kühle, klare Flut entgegen. Mein Kopf wurde klar, auch die Schmerzen in meinen Füßen verschwanden. Tokio war ein Palast der Winde, ein Kaleidoskop. Ich wartete mit der Menge, ging mit ihr, paßte mich dem Rhythmus der Menschen an, diesem leichten, spielerischen Rhythmus der Schritte. Sogar die Straßen entwickelten ihre eigene Dynamik, schienen nach allen Seiten auseinanderzubersten, ein vielgestaltiges Gewirr mit tausend Fenstern, glitzernde Adern stromabwärts gezogen zu einem Meer des Lichts.
    Ich hätte stundenlang laufen können, mit dem Wind in meinem Haar. Vor mir tat sich eine Gasse auf: schmal und gewunden wie ein Schlangenleib, ohne Gehsteige, gesäumt von Häusern aus Holz und Eisenblech mit blauglitzernden Ziegeldächern. Im Erdgeschoß befanden sich winzige Lebensmittelgeschäfte; meine Augen wanderten über Früchte und Gemüse, in Körben aufgeschichtet, über verzierte Dosen und sorgfältig eingewickelte Pakete, über Kuchen, wie winzige Kunstwerke geformt, über Pokale voller Süßigkeiten. Die Fischverkäufer waren ständig in Bewegung, fuchtelten mit den Händen, lockten die Kundschaft mit lauten Rufen herbei. Fische, Krustentiere und alle möglichen Muscheln lagen auf blaufunkelndem Eis.
    Am Ende der Straße leuchteten Baumkronen. Hier begann ein Park; ein karminrotes Holzportal, mit zwei Querbalken versehen, erhob sich inmitten der Bäume. Die mächtigen Pfeiler schienen aus dem Boden zu wachsen. Als ich durch das Portal schritt, achtete ich unwillkürlich darauf, daß mein Fuß nicht die Steinschwelle berührte. Plötzlich war mir, als ob ein Schleier, fein wie Spinngewebe, auf mich herabfiel. Eine innere Erregung ließ mich erschauern, und ich dachte, das habe ich schon früher gespürt.
    Ich folgte dem gewundenen Pfad. Die Hochhäuser verschwanden hinter dem 73
    Laub wie hinter grünen Wolkenbänken; der Lärm der Großstadt schlug in Stille um.
    Die Sonne funkelte hinter den Zweigen. Ich folgte dem Weg, der tief im Dickicht lag, aber nie völlig überwachsen war, bis er in eine Lichtung mündete.
    Hier war der Himmel weit offen und schimmerte blaugolden. Ein wenig abseits erhoben sich einige moosbewachsene Felsblöcke. Eine Quelle sickerte mit leisem Plätschern aus einem Spalt im Gestein. Ein hölzernes Überdach beschattete einen steinernen Brunnentrog. Auf dem Rand lagen Schöpflöffel aus Bambus. Ich zögerte. Was nun? Ich wollte kein Sakrileg begehen. Das

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