Silbermuschel
schnelleren Herzschlag – Anzeichen von Furcht, die keine Furcht war.
»Sind Sie der Meinung«, fragte Franca, »daß sich alte Musikformen mit neuem Sinn erfüllen lassen?«
»Selbstverständlich«, antwortete Ken, ohne die Augen von mir zu lassen.
»Wobei es Aspekte gibt, die absinken, während andere aufsteigen. Viele Ausländer setzten die japanische Trommel mit der Samurai-Romantik in Verbindung. Aber die O-Daiko ist keine Kriegstrommel. Sie hängt mit dem Shinto-Glauben zusammen und gehört, mit der Flöte, zu den ältesten Instrumenten der Welt.
Ursprünglich wurde die Trommel aus den Schädeln und den Gebeinen der Toten angefertigt. Sie ist das Ur-Instrument der Religionsmusik, der Beginn eines Entwicklungsweges, der bis zu Beethovens Missa Solemnis führt. Der Trommelschlag beschwört die Urkräfte hoch oben in den Wolken und tief unten im Schoß der Erde. Die angelockten Götter kommen zu den Menschen aus weiter Ferne, aus dunklen Himmelstiefen, von den Berggipfeln, wo die Totengeister hausen, aus den schäumenden Wellen der Meere. Sie spenden ihren Segen, schenken Fruchtbarkeit für die Menschen, Tiere und Pflanzen. Denn die Götter, deren Wesenheiten sich irgendwo in einer Art Transzendenz befinden, sind zugleich auch in den Kultobjekten gegenwärtig. Auf der ganzen Welt finden Sie das.«
Sein Erzählen kannte keinerlei Systematik und Methode, wechselte mühelos von der sachbezogenen Erläuterung zu einer Sprache voller Poesie, Nuancen und Symbole. Und doch war alles, was er sagte, von Verstand und Klarsicht kontrolliert; den Eingebungen der Sinne und des Instinkts überließ er sich mit einer Art vergnüglicher Nachsicht, als amüsiere er sich über sich selbst.
Franca starrte ihn an, völlig in seinen Bann gezogen.
»Aber wie gelang Ihnen – als Informatiker – die Wanderung zwischen diesen verschiedenen Welten? Der Weg von der Technik zur… sagen wir ruhig, zur Mystik verlangt doch, daß man über Geschichte und Gegenwart nachdenkt, sich mit politischen und philosophischen Problemen auseinandersetzt.«
»Es ist schwierig, herauszufinden, was das Richtige für uns ist.« Ken hob seine Tasse zum Mund. »Eine Zeitlang war ich sehr unstabil, habe mich auf verschiedenen Gebieten auszuleben versucht. Und daher…«
Er stockte; seine Brauen zogen sich leicht zusammen. Was für einen sonderbaren Blick er hat, dachte ich. Eine ganz merkwürdige Art von Selbstvertrauen liegt darin. Die honigbraunen Augen, die alle nahen Dinge so genau wahrnahmen, schienen gleichzeitig auf eine weite Entfernung gerichtet.
»… und daher«, sagte Ken, »verlief meine persönliche Entwicklung ziemlich chaotisch. Es war ein über mehrere Jahre reichender Selbsterziehungsprozeß.
Darüber groß zu reden, lohnt sich nicht. Um es kurz zu machen: Zuerst ging ich auf Reisen. Europa. Die Vereinigten Staaten. Was ich erlebte, läßt sich am besten 110
mit den Worten plus ça change, plus c’est la même chose umschreiben. Ich fühlte mich wie in einer Filmdekoration, und nach einer gewissen Zeit begann mir Japan wieder realer vorzukommen. Ich fuhr also zurück nach Tokio und erledigte einige Dinge, die inzwischen dringend geworden waren.«
Er sprach ganz gleichgültig, gab keine weitere Erklärung und fuhr fort: »Dann packte ich erneut meinen Rucksack und machte mich auf den Weg, diesmal durch den Archipel. Und so kam ich nach Sado, einer Insel vor der Ostküste von Honshu, im Japanischen Meer. Mit der Fähre ist man in drei Stunden da. Früher war Sado ein Verbannungsplatz für Verbrecher und wurde von den Japanern ›das Ende der Welt‹ genannt. Es gibt sogar ein Lied darüber.«
Und plötzlich begann er mit weicher, müheloser Stimme zu singen, während die schlanken Finger seiner Hände den Takt auf seinen Schenkel trommelten.
»Nikuiotoko ni kisetai shima wa Rôyagôshi no Sado ga shima.«
Die Bewegung war spielerisch, völlig unbefangen und gleichzeitig erstaunlich aufreizend. Charles rutschte unruhig hin und her, und Franca schluckte. Ken hielt plötzlich inne, warf den Kopf zurück und schüttelte sich vor Lachen. Franca lächelte jetzt auch, aber mit steifen Mundwinkeln.
»Leider verstehen wir kein Japanisch.«
»Das ist ein altes Spottlied der Bauernmädchen. Sie drohen einem lästigen Bewerber, ihm statt des üblichen Hochzeitsgewandes einen Sträflingsanzug zu schenken. Wörtlich bedeutet das Lied: ›Die Götter mögen den Unwillkommenen über die tobende See an das Ende der Welt
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