Silbermuschel
festhalten. Wie müde ich plötzlich war! Aber es war eine ganz andere Müdigkeit, nicht mehr das stumpfe, verzweifelte Weggleiten ins Nichts. Ich überließ mich diesem Gefühl, behaglich wie ein Kind, vom Spiel ermattet, das die Mutter auf ihren Armen heimträgt.
»Also, wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte Charles, »wurde Ihr Werdegang durch ein… hm… religiöses Erlebnis beeinflußt?«
Ken verschränkte sinnend die Hände hinter dem Kopf. Die Bewegung ließ auf der zimtfarbenen Haut lange feine Muskeln hervortreten, die geschmeidig, doch von äußerster Stärke waren. Seine Achselhöhlen waren nur spärlich behaart, heller als die übrige Haut und erstaunlich zart.
»Ich werde versuchen zu erklären, daß Religion für uns Japaner etwas ganz anderes bedeutet. Wir haben keinen Gott, der in unsere Betten guckt und uns Vorschriften macht. Aber in allen Dingen und Naturphänomenen sehen wir etwas Heiliges. Und da wir Phantasie haben, schaffen wir uns Bilder von dieser göttlichen Gegenwart in der Natur. Daß wir Menschen nicht selbstherrlich außerhalb, sondern höchst abhängig innerhalb dieser kosmischen Ordnung leben, scheint uns ebenso unverkennbar wie der Lauf der Gestirne, der Wechsel der Jahreszeiten, die Folge von Geburt und Tod. Die göttlichen Mächte sind uns vertraut und nahe, der Schleier der Dinge ist transparent. So empfinden wir in Japan, obwohl wir solche Überlegungen selten bewußt und intellektuell analysierend anstellen. Ob man eine solche Lebensanschauung nun religiös nennt oder nicht, ist eine andere Frage.«
Er bewegte leicht den Kopf hin und her. Die grauschwarze Haarfülle teilte sich im Nacken und folgte jeder Kopfbewegung.
Francas Blick war auf seinen langen glatten Hals, seine vollen Lippen gerichtet.
Sie nahm sich eine Zigarette, streckte die Hand nach ihrem Feuerzeug aus. Ken kam ihr zuvor. Er knipste das Feuerzeug an und reichte ihr Feuer, die Flamme mit dem Kelch seiner Hände umschließend. Ich sah fasziniert zu. Was so betörend an ihm wirkte, war seine provozierende Natürlichkeit. Jede Frau konnte einen Mann wie diesen hier ansehen und sich eine ganze Menge dabei denken. Auch Franca betrachtete sein Gesicht im Schein der kleinen Flamme, als ob sie darin etwas zu lesen suchte. Ken legte das Feuerzeug wieder auf den Tisch; in seinen Augen war ein fernes Funkeln.
»Kommen wir zurück auf Ihren persönlichen Werdegang!«
Franca, die Zigarette im Mundwinkel, sprach jetzt in zufriedenem Ton.
»Was geschah weiter auf der Insel?«
Ken lehnte sich zurück, schob die Hände in seine Jeanstaschen.
»Nichts. Ich hatte eine Idee und sprach mit Asano darüber. Er war großmütig 113
genug, mich nicht zu verspotten.«
Ein Luftzug strich über unsere Gesichter. Wir blickten zur Tür hin. Die ersten Zuschauer – einige modisch gestylte junge Leute – kamen ins Foyer und stellten sich vor die Kasse. Ken sah flüchtig auf die Uhr, nicht auf seine eigene, sondern auf die an der Wand.
»Es tut mir leid, die Zeit wird knapp. Also, ich ging nach Tokio zurück und entwickelte ein Konzept, für das sich schließlich ein paar Leute interessierten.«
»Erzählen Sie uns etwas davon?« Franca stellte die Frage berufsmäßig nüchtern.
»Nun, ich wollte eine Schule gründen. Eine Schule für traditionelle japanische Instrumente, aber der heutigen Zeit angepaßt. Meine Idee war, junge Musiker zu einer Gemeinschaft heranzubilden. Wie Kinder ein und derselben Familie. Diese Art von Gemeinschaften gab es bei uns seit Jahrhunderten; sie dienten vorwiegend der Schulung der Samurai. Die berühmtesten waren in Kyoto. In diesen Schwertkampfschulen galt Selbstzucht als Schlüssel zur Meisterschaft im Kriegshandwerk. Doch unter dem Einfluß des Zen wandte sich das Können vermehrt geistigen Zielen zu. Die Grundidee – das Zusammenwirken der Kräfte von Körper und Geist im Dienst einer Kunst – faszinierte mich.«
»Ein anspruchsvolles Vorhaben. Und was wurde daraus?«
»Zuerst klopfte ich an verschiedene Türen. Ich brauchte Subventionen. Die zweite Hürde war, führende Lehrkräfte zu gewinnen. Ferner half mir Yoshiyuki Asano, ein Haus am Strand von Sado zu finden und eine Übungshalle einzurichten.
Auch mußte mein rein gefühlsorientiertes Musikempfinden geschult werden, wobei ich mich ganz schön borniert zeigte. Und ich kann immer noch nicht besonders gut spielen, keine Spur, bilden Sie sich das bloß nicht ein.«
Franca schlug die schwarzbestrumpften Beine hoch übereinander.
»Ich
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