Silbermuschel
fröstelte.
»Inari?« wiederholte ich leise. »Wer ist das?«
»Eine Gestalt aus unserer Mythologie. Du hast rotes Haar, oder?«
»Ich denke doch. Ich mag es nicht.«
»Ich finde es schön.«
»Wirklich?«
Er neigte das Gesicht, so daß mein Haar dicht unter seinen Lippen lag. Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern.
»Gib mir noch fünf Minuten, ja? Ich möchte eine Dusche nehmen und zwei, drei Sachen in Ordnung bringen.«
»Mach schnell!«
Der Scheinwerfer erlosch. Mit einem Mal wurde es stockdunkel. Im selben Atemzug, da Ken über mich herfiel, flogen meine Arme um seine Schultern. Wir keuchten und taumelten, preßten uns aneinander. Kein Geräusch war mehr jetzt, kein Laut, außer dem wilden Hämmern in unseren Körpern – sein Herz und mein Herz. Kens Hand wanderte zu meinem Nacken, unter mein Haar. Seine Finger spreizten sich, tasteten über meine Kopfhaut, dann über meine Wangen. Ich schmiegte mein glühendes Gesicht in seine Handfläche. Seine Lippen wanderten über meine Stirn, über meine Augenlider, saugten an meiner Ohrmuschel.
Stöhnend schob ich mein Knie zwischen seine Beine. Seine Lippen glitten über meine Nasenflügel, schwebten dicht über meinem Mund. Dann umfaßte er meine Wangen mit beiden Händen. Der erste Kuß war zart, spielerisch, fast wie die Liebkosung eines Kindes. Einige Sekunden lang bewegte er das Gesicht hin und her, streichelte mich mit seinem warmen Atem. Wir sahen uns in der Dunkelheit an, und auf einmal schloß sich sein Mund um den meinen, rieb und drückte ihn, bis das Blut unter der Schwellung pochte. Doch er war es, der die Lippen öffnete, und ich, die meine Zunge in seinen Mund wandern ließ, als ob ich ihm mein Leben schenkte. Er preßte mich an die Mauer, mit seinem ganzen Gewicht, und ich fühlte, daß er unter seinem Trainingsanzug nackt war. Seine Lippen hielten meine Zunge fest, saugten an ihr, als wolle er mich ganz in sich aufnehmen. Unser Atem vermischte sich, das Hämmern unserer Herzen wurde zu einem einzigen, heftigen’
Zittern. Wir versanken in einen Abgrund, der ohne Zeit war und ohne Raum, bis Geräusche und Stimmen uns schlagartig wieder zur Besinnung brachten.
Ganz in der Nähe schleifte ein schwerer Gegenstand über den Boden. Der Scheinwerfer flammte auf, tauchte den Gang in kreidiges Licht. Wir rissen unsere 130
Lippen voneinander los, starrten uns an, atemlos, blinzelnd und wie benommen.
Dann trat Ken einen Schritt zurück. Sein Haar fegte über mein Gesicht, als er sich wortlos abwandte und ging. Meine Arme fielen herab. Ich stand, an die Wand gedrückt, mit rasendem Puls. Es dauerte einige Minuten, bis ich meinen Atem wieder in der Gewalt hatte und fähig war, aus dem Gang in den Bühnenraum zu treten. Inzwischen hatten die Jungen die Trommel vom Wagen gehoben. Zögernd trat ich näher an sie heran. Lichtfunken tanzten auf dem Lack, aber das eigentümliche Magnetfeld war endgültig erloschen. Ich fürchtete mich nicht vor ihr, ebensowenig, wie Ken sich vor ihr fürchtete. Behutsam streckte ich die Hand aus, berührte das Trommelfell; die Fläche fühlte sich auf erstaunliche Weise samtig und elastisch an. Es war ein fast sinnliches Vergnügen, mit der Hand darüber zu streichen. Während ich so dastand, gingen eines nach dem anderen die Lichter aus.
Die Jungen und Mädchen stopften ihre Sachen in die Sportsäcke und gingen zum Ausgang, wo sie in ihre Schuhe schlüpften und die Pantoffeln in das dafür gemachte Holzgestell setzten. Stimmen und Schritte entfernten sich in den Gängen.
Ich stand allein mit der Trommel und spürte ganz deutlich in ihr die ruhende Gottheit.
Hinter mir ging eine Tür auf. Licht fiel in den Gang. Ken trat heraus mit seinem schnellen, elastischen Schritt. Ich sah ihn kommen, so seltsam vertraut und doch so unglaublich fremd, und fühlte es wieder, das weiche Feuer unter der Haut und das schmerzlichsüße Erschauern im Rücken und in den Schenkeln. Er hatte sich umgezogen, trug Jeans, ein frisches T-Shirt. Der grauweiß gestreifte Pullover war um seine Hüften geknotet. Sein Haar, im Nacken festgebunden, hing feucht und schwer auf seinem Rücken.
»Es tut mir leid, daß du warten mußtest. Ich hatte noch das Finanzielle zu erledigen. Natürlich sind wir in den roten Zahlen«, schloß er in ironischem Ton.
Ich schüttelte den Kopf.
»Es hat mir nichts ausgemacht, zu warten.«
Er grinste.
»Aber mir!«
Er trat nahe an die O-Daiko heran, warf mir einen raschen Blick zu und sagte:
»Jetzt
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