Silbermuschel
aufpassen.«
Die Unruhe wich aus meiner Brust, sie flatterte irgendwo draußen. Kens schützende, beruhigende Zärtlichkeit hatte die Schatten verscheucht. Ich atmete freier.
»Hast du dir vorgestellt«, fragte ich zögernd, »daß es so sein könnte, ich meine: das zwischen dir und mir?«
Er legte mir beide Hände auf die Schultern und lächelte mich an.
»Ich glaube, daß wir uns gefunden haben. Und wenn es so ist, wurde es höchste Zeit. Ich kriege immer mehr graue Haare.«
»Und ich Falten.«
Er schüttelte sich vor Lachen. Ich staunte immer wieder, wie nahe Besonnenheit und Übermut in seinem Herzen beieinander wohnten. Aber das war es, was ihn so unwiderstehlich machte.
»Mir gefallen die kleinen Falten an deinen Augenwinkeln. Wie 142
Schmetterlingsflügel! «
Er drehte mein Gesicht zwischen seinen Händen hin und her und küßte es. Ich legte die Arme um seinen Hals. Wir knieten Stirn an Stirn. Meine Wimpern schlugen zwischen seinen Wimpern. Wir streichelten uns, gierig und atemlos. Sein Mund wanderte über mein Gesicht, saugte an meiner Unterlippe. Meine Zunge öffnete seinen Mund. Er hob leicht den Kopf, lächelte, bevor er meine Lippen völlig mit den seinen umschloß. Ich tauchte in ihn ein, wie in warme, schützende Dunkelheit. Wir küßten uns, bis unsere Lippen anschwollen und pochten. Die Zärtlichkeit machte uns taub und blind. Wir verloren uns in uns selbst, schlossen uns gegen alles ab, was außen war. Nach einer Weile rückten wir ein wenig auseinander und sahen uns an. Eine seltsame Stille umgab uns. Wir waren die letzten Gäste. Die Chefin des Restaurants hantierte hinter der Theke; die Kellnerin wischte die Tische ab und sah uns von der Seite an. Wir tauschten ein Lächeln, und ich sagte:
»Wir benehmen uns etwas zu auffällig.«
»Das war erst der Anfang«, erwiderte er kehlig. »Höchste Zeit, daß wir gehen.«
Er nahm die Rechnung, warf seinen Sportsack über die Schulter und erhob sich mit leichter, federnder Bewegung. Er sah, daß ich nur mühsam wieder auf die Beine kam, lachte jungenhaft und zog mich hoch.
»Alles nur Training!«
Er zahlte an der Kasse; wir traten nach draußen, auf die Straße. Unter dem korallenroten Nachthimmel funkelten die Lichter. Tokio dröhnte und vibrierte in pulsierenden Farben. Wir machten ein paar Schritte, und Ken sagte:
»Ich würde dich gern in meine Pension mitnehmen, aber ich schlafe mit zwei Jungen in einem Raum. Schließe aber nicht daraus, daß ich zur Volksgruppe der Rosen gehöre.«
Ich starrte ihn verständnislos an. Seine Zähne blitzten in der Dunkelheit.
»So nennt man bei uns die Homosexuellen. Daß japanische Sozialisten sich nicht – wie andernorts üblich – Rosen ins Knopfloch stecken, hat seinen guten Grund!«
Ich lachte mit ihm. Er hielt meine Hand und überlegte.
»Wir müssen etwas anderes finden.«
»Wenn du willst«, schlug ich vor, »können wir zu mir ins Hotel gehen.«
»Auch gut.«
Die Nacht war feucht und kühl, eine schwebende Nebelschicht hing um die Hochhäuser. Ich verschränkte fröstelnd die Arme. Ken knotete seinen Pullover auf und legte ihn mir um die Schultern. Er hatte jetzt nur sein T-Shirt an.
»Aber du frierst doch! « widersprach ich.
»Ich friere nie.«
Er spielte mit meiner Hand.
»Macht es dir nichts aus, mit einem Motorrad zu fahren? Ich habe ein leichtes 143
Modell, eine Honda 250. Die brauche ich auf unserer Insel.«
»Bist du mit dem Motorrad nach Tokio gekommen?«
»Nein, wir sind mit einem Lastwagen hier. Das Motorrad habe ich verladen.
Man kommt damit gut durch den Stoßverkehr.«
Er hatte die Maschine in der Straße hinter dem Theater geparkt.
»Du brauchst einen Helm«, sagte er. »Nimm meinen.«
»Und du?«
»Macht mir nichts ohne.« Er drehte sein Haar zusammen und steckte es hinten in den Ausschnitt seines T-Shirts. Ich streifte den Helm über. Ich atmete den Geruch von Kens Haut ein, schon ein vertrauter Geruch. Inzwischen befestigte Ken seinen Sportsack und schob die Maschine auf die Straße. Er bestieg das Motorrad, und ich setzte mich hinter ihm auf den angenehm federnden Sattel. Ken drehte den Schlüssel und betätigte den Starter. Die Honda dröhnte und bebte, als der Motor ansprang. Ken lächelte mir über die Schulter hinweg zu.
»Fertig?«
Ich nickte und umklammerte seine Taille. Die Kupplung rastete ein, die Scheinwerfer strichen über den Bodenbelag. Die Maschine setzte sich in Bewegung. Ken kurvte um eine Ecke herum, schaltete mit einer Fußbewegung in
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