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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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musselinweiche Schleier. Das Pärchen in der 138
    Ecke sah verstohlen zu uns herüber.
    »Was machst du mit mir?« flüsterte ich.
    Leise erwiderte er:
    »Ich kann es kaum abwarten, dich zu lieben. Aber wir Japaner sagen, auch das Warten ist schön.«
    Er ließ mich frei. Einige Atemzüge lang saßen wir ganz still. Dann schenkte er mir neuen Sake ein.
    »Trink!«
    Ich trank den Sake schnell. Wärme kreiste in meinen Adern, in meinen Ohren summte ein Bienenschwarm.
    »Ich muß dir auch etwas erzählen«, begann er. »Du weißt, daß ich vor zwanzig Jahren in Südfrankreich studierte. Ich hatte einen kleinen Wagen gemietet. Im Juli kam ich zum ersten Mal nach Arles. Ich übernachtete in der Jugendherberge und sah mir die Umgebung an. In Avignon war ich für das Sommersemester angemeldet. Aber bald kam eine Zeit, wo ich jeden Abend nach Arles fuhr.«
    »Wann war das?«
    »Im August«, sagte er.
    Ich starrte ihn an. Wie ein Stein in ruhiges Wasser fällt und nach allen Seiten Wellenringe aussendet, so rührte sich in mir der Pulsschlag einer steigenden Erregung, als ich zu begreifen begann, was seine Worte bedeuteten.
    »Ist das wahr?«
    Er lächelte, still und herzlich.
    »Warum sollte ich dich anlügen?«
    Die Feder eines Nachtvogels schien mich kalt zu streifen. Meine Nackenhaare sträubten sich. Du hättest mich retten können. Nur du – bevor der Schmerz mich in Stücke riß.
    Mühsam bewegte ich die Lippen.
    »Der Mond…«, flüsterte ich.
    Kein Muskel regte sich auf seinem Gesicht, und doch geschah eine Verwandlung mit ihm. Ich kannte ihn plötzlich nicht wieder.
    »Ja«, sagte er rauh, »der Mond…«
    Unvermittelt stellte er seinen Becher hin, rutschte auf den Knien dicht neben mich, umfaßte mich mit beiden Armen.
    »Ich fuhr los wie ein Idiot, sobald der Mond aufging. Siebzig Kilometer auf der Überlandstraße, die Autobahn wurde damals erst gebaut. Zuerst sah ich einen Silberstreifen am Rand der Berge. Nach und nach entfaltete sich eine weiße Aura, der Mond stieg über Arles wie ein glühendes Auge empor. In der Altstadt staute sich die Tageshitze, die Platanen warfen tiefe Schatten. Ich schwitzte, ich fror.
    Gerüche, Geräusche und Töne trafen mich wie Nadelstiche. Das Herz klopfte in meiner Brust wie das eines streunenden Hundes. Ich konnte nur immerfort herumlaufen, nur laufen ohne Pause. Der Mond teilte das Amphitheater in zwei 139
    Hälften von Licht und Schatten. Ich spielte Verstecken mit ihm, an den Bogenreihen entlang. Er verschwand hinter den Säulen, kam wieder hervor. Ich hatte das Gefühl, daß seine Schwerkraft die ganze Stadt zu sich emporsaugte.
    Sogar der Boden schien zu vibrieren.«
    Er stockte, holte gepreßt Atem. Ich kniete neben ihm, wie versteinert. Meine Kopfhaut kribbelte, in beiden Stirnhälften hämmerte das Blut.
    »Und dann?«
    Er sprach weiter, den Blick ins Leere gerichtet.
    »Ich verlor jegliches Zeitgefühl, wußte nicht mehr, ob ich träumte oder Wirkliches sah. Der Mond zog weiter, ließ Mauern aus verkohlter Schwärze zurück. Zwischen den Säulen gähnten Löcher, so tief, wie Sekunden in Jahrhunderten sind. Zu irgendeiner Zeit verdrückte ich mich in eine Bar, wo ich mich betrank. Später wanderte ich durch die Straßen, lehnte an den warmen Mauern der Häuser und hörte die Steine schreien. Den Rest der Nacht verbrachte ich im Auto, auf einer Bank, und einmal auf der Polizeiwache.«
    Er griff nach dem Kännchen, füllte seinen Becher und wollte auch mir einschenken. Ich legte rasch meine Hand auf seine.
    »Nein, Ken! Keinen Sake mehr.«
    Er hob seinen Becher zum Mund.
    »So ging das einige Nächte lang. Der Mond nahm ab. Ich wurde wieder normal
    – wenn ich es je gewesen war – und gab meine Streifzüge auf.«
    Er trank, wischte sich mit dem Arm über die Lippen. Seine Stimme klang plötzlich dumpf.
    »Zwanzig Jahre sind vergangen. Was damals mit mir war, weiß ich heute noch nicht. Rückblickend kann ich es nur als eine Art Besessenheit bezeichnen. Es scheint einen Bereich in uns zu geben, der sich nicht analysieren läßt. Alles ist wie in Tücher eingewickelt. Wir tasten uns von außen mit den Händen heran und erfühlen, was wohl darin stecken könnte. Aber wir sollten da nicht aufdringlich sein, sonst dringen wir niemals bis zur Wahrheit vor.«
    Ich drückte das Gesicht an seine Schulter. Die Worte, die ich jetzt sprach, kamen aus einer Erinnerung, die tiefer war als mein Bewußtsein.
    »Warum hast du mich nicht gefunden, damals? Warum nur? Ich war so

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