Silbermuschel
Kern der Dinge erkannte er sofort. Das beunruhigte mich. Er war so extrem feinfühlig, daß er mich nur zu gut durchschaute. Ich versuchte, ihn nicht absichtlich mißzuverstehen.
»Manchmal sind wir im Leben kurzsichtig.«
»Früher oder später tragen wir alle eine Brille.«
Er hatte eine entwaffnende Art, mich zum Lachen zu bringen und mich im nächsten Augenblick durch seine tiefe, geheimnisvolle Weisheit in Erstaunen zu setzen.
»Und wie ging es weiter?« fragte er.
»Da rief Franca an. Franca Uthof, du kennst sie ja. Der Schweizer Rundfunk schickte sie nach Japan. Sie sollte über eine Messe berichten. Komm doch mit, sagte Franca. Auf einmal war alles wieder da. Verfärbte Erinnerungen. Alte, vertraute Gefühle. Dinge, die ich glaubte, vergessen zu haben. Das japanische Buch, zum Beispiel…«
»Welches Buch?«
»Ein Kinderbuch, das ich haben wollte und meine Eltern mir nicht gekauft haben. Es wurde eine schlimme Geschichte daraus. Ja… mit diesem Buch fing alles an.«
Ich stockte. Übelkeit kam in mir hoch. Formlose Dinge in meinem Kopf.
Bilder, die ich nicht sehen wollte. Ich hielt sie auf, schob sie weg. Die Hitze aus der Pfanne wärmte mein Gesicht, während die kalte Luft der Klimaanlage über meinen Rücken strich.
Er fuhr fort, mich ruhig und prüfend zu betrachten.
»Wann war das?«
»Vor zwanzig Jahren.«
Er kniff leicht die Augen zusammen. Ich spürte in ihm eine plötzliche Gespanntheit, eine Wachsamkeit.
»Und dann?«
»Später… nach dieser Sache las ich andere Bücher über Japan. In der Bibliothek bekam ich sie fast umsonst. Ich habe auch versucht, Japanisch zu lernen. Manchmal fallen mir gewisse Worte wieder ein. Und hier und da verstehe ich sogar, was gesprochen wird. Aber ich wage nicht, japanisch zu reden.«
»Eines Tages wirst du japanisch reden. Mit mir.«
»Mit dir, ja. Aber nur mit dir.«
137
Er lächelte verschmitzt.
»Wir werden ja sehen. Und weiter?«
»Eigentlich hatte ich vor, Japanologie zu studieren. Aber dann heiratete ich Bruno. Und ganz allmählich, siehst du, da wurde Japan für mich das Land auf der Welt, nach dem ich mich am meisten sehnte. Und gleichzeitig die Sache auf der Welt, an die ich am wenigsten dachte. Ich konnte beides nie zusammenbringen.«
Er trank geistesabwesend einen Schluck.
»Ich verstehe.«
»Nicht wahr?« rief ich lebhaft. »Auch das mußt du verstehen. Hör zu, es kam so: Als Franca mir den Vorschlag machte, mit ihr nach Japan zu kommen, da merkte ich, daß ich zurück wollte. Zurück zu den Dingen, die wichtig für mich waren. Zwanzig Jahre lang hatte ich mich selbst belogen. Ich starb fast an dem Gefühl, daß ich so viel Zeit verloren hatte. In Vevey arbeite ich für eine Lokalzeitung. Ich schreibe hin und wieder über Kulturanlässe und fotografiere. Ich ließ mir einen Auftrag geben. Aber ich habe noch nichts fotografiert. Und auch noch keine einzige Zeile geschrieben…«
»Das kann warten«, erwiderte er leichthin. »Und übrigens, dein Essen wird kalt.«
Zerstreut griff ich zu den Stäbchen. Ich sah, daß meine Hände zitterten. Ken goß neuen Sake ein.
»Und wie war es in Tokio, als du ankamst?«
»Als ich ankam? Ich wachte mit dem Gefühl auf, daß ich wieder zwölf Jahre alt war. Daß die Zeit dazwischen wie weggewischt war. Ich hatte das Empfinden, daß ich alles schon kannte. Und da spürte ich sie wieder, die Traumgestalt. Seit zwanzig Jahren hatte ich sie verloren geglaubt. Und plötzlich war sie wieder ganz nahe. Und als ich dich sah…«
Ich stockte. Biß mir hart auf die Lippen.
»Ja?« fragte er aufmerksam.
Ich legte die Stäbchen nieder.
»Da war mir, als ob ich eine Last auf den Schultern geschleppt hätte, Tag und Nacht, jahrelang, und sie endlich absetzen konnte, wo sie hingehörte.«
Sein Blick wich nicht von meinem Gesicht. Ich lächelte befangen.
»Es tut mir leid, ich sollte solche Dinge nicht sagen. Und ich sollte auch nicht so viel Sake trinken. Wenn ich getrunken habe, bilde ich mir alles Mögliche ein.«
»Zum Beispiel, daß ich Angst vor dir haben könnte?«
Mein Herz schlug schneller. Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden. Er beugte sich über den Tisch, nahm meine rechte Hand und hielt sie fest. Schweigen.
Wir sahen einander an. Er drehte meine Hand behutsam um, küßte die Innenfläche, fuhr mit den Zähnen über meine Pulsadern, eindringlich und immer wieder. Sein Mund kam und ging, wie ein Traum. Schauer, durch seine Liebkosung ausgelöst, wehten über meinen Rücken wie
Weitere Kostenlose Bücher