Silbermuschel
allein!
Ich brauchte dich so nötig! «
Seine Lippen bewegten sich an meiner Wange.
»Was war denn mit dir?«
»Ich war krank. Man hat mir gesagt, es habe lange gedauert. Es war… als ob ich aus mehreren Körpern bestand. Manchmal wurde einer meiner Körper in die Luft geworfen… und wenn er auf die Erde zurückfiel… geschahen seltsame Dinge.«
Er streichelte sanft mein Haar, zog mich enger an sich. Seine Herztöne drangen in meine Brust wie ein pulsierendes Echo. Ich wollte von diesen Herztönen leben, 140
Kraft aus ihnen schöpfen, sie ganz in mich aufnehmen.
Nach einer Weile fragte er:
»Wie alt warst du?«
»Zwölf Jahre.«
Er rückte leicht von mir ab, um mich anzusehen. Seine Augen lächelten mich an.
»Schade, daß ich dich nicht gekannt habe! Wie hübsch du gewesen sein mußt!
Wie eine Rosenknospe…«
Mein Atem setzte aus.
»Wie kommst du darauf?«
»Einfach so. Aber du zitterst ja!« Er legte die Hand auf meine Stirn, dann auf seine, um die Wärme zu vergleichen.
»Kein Fieber«, stellte er fest. »Ist dir kalt? Soll ich dir meinen Pullover geben?«
Ich seufzte tief.
»Es geht schon. Ich bin nur etwas durcheinander.«
»Glaubst du etwa, ich nicht? Sag mal, wo wohntest du damals in Arles?«
Meine Kehle wurde eng. Ich schluckte würgend. Ich will mich nicht erinnern.
Auf keinen Fall.
»Am Stadtrand. In einem alten Haus ohne Heizung. Wir hatten nur einen Kamin. In den Zimmern roch es nach Gips. Immer, wenn ich Gips rieche, wird mir schlecht. Inzwischen wurde es abgebrochen. Die Autobahn, verstehst du… Wir sind enteignet worden. Mein Vater war froh um das Geld.«
Er umfaßte meinen Nacken und zog mich an sich. Ich drückte mein Gesicht an seinen Hals, genau dorthin, wo unter der warmen Haut das Blut pulsierte. Er sagte, betont gleichmütig:
»Vielleicht bin ich an deinem Haus vorbeigegangen…«
»Ohne es zu wissen?«
»Ja. Zu dumm, nicht wahr?«
Ich hielt die Luft an. Nicht denken, jetzt. Ganz ruhig sein. Ich will alles vergessen. Das plötzliche Aufleuchten im Herzen. Dann der flirrende, sich entfernende Kreis und sofort wieder Schmerzen. Ich weiß, daß gleich die Dunkelheit kommt und ich dich immer weniger finden werde.
»Ich hatte niemanden«, flüsterte ich. »Nur den Kastanienbaum.«
Er zuckte zusammen.
»Einen Kastanienbaum?« murmelte er. Durch das dünne T-Shirt spürte ich die Resonanz seiner Stimme in seinem Körper.
»Er wurde gefällt«, sagte ich. »Schon vor langer Zeit. Der Garten existiert nicht mehr.«
Er schüttelte den Kopf, wie um einen Gedanken loszuwerden. Doch seine Stimme klang plötzlich heiser.
»Manchmal sehen wir Engel, gekleidet in den Formen der Natur. Wir glauben, 141
daß sie verschwinden. Aber mit ihrem Verschwinden zeigen sich diese Formen noch deutlicher.«
Ein Taumel von Müdigkeit ergriff mich. Ich drückte mich enger an ihn, rollte mich fast zusammen. Er war wie ein Baum, unter dessen Rinde ich kriechen konnte. In seiner Umarmung fühlte ich mich geborgen und wohl, wie ein Tier im Winterschlaf. Aber mehr als eine Nacht durfte ich nicht verlangen. Sobald die Sonne schien, würde er gehen. Vielleicht schon früher.
»Möglicherweise haben wir uns das alles nur ausgedacht«, sagte ich.
»Hör mir zu«, sagte er. »Wir gehören zu den Menschen, die schon die Welt jenseits des Todes erblickt haben, wie eine Maske. Und unser Körper ist nicht nur lebendiges Fleisch und auch nicht nur ein Körper, der sich in irgendeine Rolle verkleidet, um eine Geschichte darzustellen. Es ist wie die Vorstellung eines Kami
– einer Gottheit, die in unseren lebendigen Körper schlüpft. Achten wir auf das, was er uns im Geiste sagt, hören und sehen wir vieles, was wir vielleicht nicht wahrhaben wollen.«
Ich hob den Kopf und sah ihn an.
»Woher weißt du, daß es so ist?«
Er blinzelte mir verschmitzt zu.
»Nun, sagen wir mal, ich habe mich eine Zeitlang mit diesen Dingen befaßt.«
Sein Lächeln verschwand. Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände.
»Ich ahne, daß du Schreckliches erlebt hast. Daß es immer noch in dir steckt.
Daß du versuchst, diese Angst zu verdrängen. Aber das ist ein großer Fehler. Du darfst nicht mehr davonlaufen. Du mußt stehenbleiben. Die Augen öffnen. Die Furcht in dir bekämpfen. Sobald du sie gezähmt hast, schadet sie dir nicht mehr.
Sie wird dich sogar stark machen.«
»Ich habe ein schlechtes Gedächtnis«, entgegnete ich rauh.
Er stupste seinen Finger auf meine Nase.
»Mir scheint, auf dich muß man
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