Silberschwester - 14
… von den gespitzten Ohren bis zur gesträubten Halskrause –
ausgenommen die Augen, wie sie nun stirnrunzelnd vermerkte. Nur eine leichte
Wölbung unter den Lidern … der Künstler hatte es versäumt, die stilisierten
Höhlungen um die Augen zu schneiden. Komisch, dass sie das früher nie bemerkt
hatte! So setzte sie sich an ihre Werkbank und sah sich das Katzengesicht
eingehender an – im leicht flackernden Kerzenschein, konnte sie es sich doch
nun nicht mehr leisten, außerhalb der Arbeit teures Lampenöl zu verbrauchen.
Je länger sie
sich dieses Gesicht ansah, desto unvollkommener, unstimmiger erschien es ihr!
Also tauchte sie, in plötzlicher Eingebung, den Zeigefinger in das schon halb
eingetrocknete Indigo, das ihr zum Einfärben der Amulettperlen diente, und
tupfte davon etwas mitten auf diese Augen, malte spielerisch die Ohrmuscheln
und Nasenlöcher aus und zog endlich, mit dem Rest der dicken blauen Paste, den
Umriss der Lippen nach.
»So, meine
Liebe«, lachte sie, »nun hast du Augen zu sehen, Ohren zu hören, ein Näschen zu
riechen und auch einen Mund zu sprechen …« Welch erstaunliche Veränderung!
»Was für ein
prächtiger Kerl du bist«, lobte sie lächelnd – nur ein Kater hatte so eine
Krause! Und da war es im weichen Kerzenlicht, als ob dieser Lapiskater ihr
Lächeln erwiderte. Zufrieden blies sie nun die Kerze aus und machte es sich auf
ihrer Pritsche zum Schlafen bequem.
»Komm, Tochter der Steinwirkerin!«,
hörte Shallisa es aus dem Dunkel rufen, raunen, als sie sich ruhelos im Schlaf
wälzte. »Es ist Zeit aufzustehen und mit dem Wind zu wandern.«
»So müde«,
murmelte sie und grub sich tiefer in ihre Decken. Da wurde sie plötzlich zu
ihrem Staunen und Erschrecken aus ihrem Leib und geradewegs durchs Zeltdach
gezogen …
Im Aufsteigen
dann in alle Richtungen sich drehend, war ihr, als ob sie die gesamte Welt
ringsum wie eine silberne Ebene sich ausbreiten sähe. Der Mond über ihr
strahlte so hell wie die Sonne zu Mittag, und der Wind, der rundum wie die
Wasser eines rasch fließenden Stromes brauste, zog sie fort von dem Lager, in
dem sie Jahr um Jahr zur Zeit des Frühjahrs- und des Herbstmarkts gelebt hatte.
»Komm, schnell!«,
mahnte die Stimme, die eine recht männliche Qualität besaß und sie in ihrem
Inneren so anrührte wie eine ergreifende, aber halb vergessene Melodie.
Stumm folgte
sie ihr und ging, wohin die sie zog, schwebte geistgleich über menschenleere
Straßen, bis sie zur Treppe des Steinernen Hauses kam. Doch nicht zu den hohen,
luxuriös ausgestatteten Gemächern jener oberen Stockwerke zog es sie, sondern
zu den Werkstätten in den Gewölbekellern unter der Erde.
Still war es
in diesen Hallen, aber nicht so dunkel, wie sie gedacht hatte. Ja, die
Steinwände verströmten so ein weiches Licht, in dem sie alles um sich sah auf
ihrem Weg in den innersten Raum … Der war kleiner als die anderen und mit
allerlei merkwürdigen Dingen voll gestopft. Regale voller Krüge und Fläschchen
und Schachteln bedeckten die Wände, und in der Mitte der Kammer stand, von zwei
Tischchen flankiert, eine Tafel aus Chalcedon, in die viele fremdartige Symbole
und Embleme geritzt waren.
Mitten auf dem
Altar, denn das war dies ja wohl, stand eine kleine, durch ein goldfarbenes
Tuch verdeckte Figur. Shallisa trat kurz entschlossen näher und zog die Hülle
weg – und da sah sie die Lapiskatze vor sich.
»Wie kommst du
hierher?«, fragte sie laut. Aber der Kater, da nur aus Stein, gab keine
Antwort.
Er war wieder
so ungeschminkt, wie sie ihn immer gesehen und nach Hause gebracht hatte – aber
auf dem Tischchen zu seiner Rechten stand ein Töpfchen mit dunkelblauer Salbe.
Von einem merkwürdigen Drang oder Zwang überwältigt, tauchte Shallisa die
Finger hinein und tupfte ihm von dieser Farbe, wie zuvor, auf die Augen,
murmelte dabei jedoch etwas, als ob sie einen Zauber sagte.
»Augen öffnet
euch, damit der Geist sehe!«
Als sie ihm
eine Fingerspitze voll dieser süß duftenden Salbe in die Ohren strich, wisperte
sie dazu: »Ohren öffnet euch, damit der Geist höre.« Dann salbte sie ihm Nase
und Maul und sprach dazu dementsprechend: »Nüstern öffnet euch, damit der Geist
atme. Lippen öffnet euch, damit der Geist spreche.«
Und sie wollte
kaum ihren Sinnen trauen, als der Kater dann plötzlich mit den Ohren zuckte und
blinzelte und sagte: »Gut gemacht. Aber jetzt, Tochter der Steinwirkerin, musst
du mir noch das letzte und größte Geschenk
Weitere Kostenlose Bücher