Silberstern Sternentänzers Sohn 01 - Der geheimnisvolle Hengst
die Hand auf seine Schulter. „Manchen Menschen reicht unser Aussehen als Grund. Und dieser Bauer gehört offensichtlich dazu.“ Er deute te auf Antonios kunterbuntes Hemd mit den großen Papageien, das er über einer weiten knallroten Pluder hose trug. „Vielleicht wird dieser Kerl ja ein bisschen zahmer, wenn du in Zukunft einen dunkelblauen Nadel streifenanzug anziehst“, grinste er.
Annit wusste, dass Rocco mit seiner Bemerkung die angespannte Atmosphäre ein wenig auflockern wollte. Doch ihr war überhaupt nicht zum Lachen zumute.
„Mach nicht so ein besorgtes Gesicht“, meinte Rosalia, als Annit ihr nach dem Essen beim Abräumen half. „Unsere Männer werden mit diesem Bauern schon fertig.“ Sie strich Annit eine Haarsträhne aus der Stirn. „Und jetzt denk einfach nicht mehr dran. Morgen ist ein großer Tag, und dafür brauchst du all deine Kraft.“
Annit wachte am nächsten Morgen viel zu früh auf. Da sie nicht mehr schlafen konnte, schlüpfte sie aus dem Zelt, um nach Silberstern zu sehen. Seit dem Vorfall mit dem Bauern hatte sie ein bisschen Angst um ihn. Doch der Hengst stand friedlich mit den anderen Pferden zusammen, an der Tränke draußen vor dem Unterstand.
Annit tätschelte liebevoll seinen Hals. „Ich werde immer auf dich aufpassen, Silbersternchen“, raunte sie ihm ins Ohr. „Damit dir nichts passiert.“ Der Hengst sah sie mit seinen tiefschwarzen Augen an, und Annit wusste, dass er sie verstanden hatte. Noch nie hatte sie sich einem Wesen so nah gefühlt, weder einem Tier noch einem Menschen. Selbst zu ihren Eltern hatte Annit nicht so ein inniges Verhältnis gehabt.
Den ganzen Tag über herrschte auf der großen Zirkuswiese eine angespannte, unruhige Atmosphäre, fast wie in einem Ameisenhaufen. Vormittags gingen alle noch einmal ihre Nummern durch, denn jeder wollte bei der Premiere am Abend sein Bestes geben.
Rosalia hatte alle Hände voll damit zu tun, ihren Mann José wieder aufzurichten, der wie ein Häufchen Elend wirkte und völlig aufgelöst vor dem Wohnwagen hin und her rannte. Annit musste schmunzeln, als sie den großen, muskulösen Mann so nervös sah. Doch sie wusste genau, wie er sich fühlte.
Am Nachmittag drehte Rocco mit einigen Männern aus der Zirkustruppe noch einmal eine Runde durch das Zelt, um zu prüfen, ob auch alles an seinem Platz war. Aber als dann am Abend die Vorstellung in dem ausverkauften Zelt endlich begann, waren alle hoch konzentriert - genau so, wie Rosalia es vorausgesagt hatte.
Rocco stand in einem dunklen, langen Frack und mit hohem Zylinderhut in der Mitte der Manege. Ein Schein werfer war auf ihn gerichtet, während alles andere im Dunkeln lag. „Meine Damen und Herren“, begann er mi lauter, tiefer Stimme. „Ich freue mich sehr, dass wir vor den Toren Ihrer wunderschönen Stadt Warschau zu Gast sein dürfen. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden, mit uns diesen Abend zu verbringen. Und jetzt freuen Sie sich mit mir auf José Campanelli, unseren Schwertschlucker, der Ihnen mit seinen gewag ten Kunststücken den Atem rauben wird. Einen großen Applaus für José.“
Annit lugte voller Anspannung durch einen Spalt im Vorhang. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie an der Reihe war. Aber zuvor präsentierte Fabrizio noch seine gewagten Kunststücke auf dem Hochseil.
Schließlich war es so weit, und sie ritt mit Silberstern in die Manege. Als sie die vielen neugierigen Augen der Zuschauer auf sich gerichtet sah, fühlte sie sich wie in einer anderen Welt, eingehüllt in einen Zauber, der sie ganz erfüllte. Plötzlich gab es nur noch sie und Silberstern, der leichtfüßig durch die Manege galoppierte, während sie durch den Reifen sprang und sanft wie eine Feder wieder auf seinem Rücken aufkam.
Tosender Applaus schallte minutenlang durch das Zelt, als sich zum Schluss alle Artisten Hand in Hand in der Manege aufstellten und sich verbeugten.
Annit, die links neben Rocco stand, fühlte, wie er ihre Hand drückte.
„Wir haben es geschafft“, raunte er ihr zu, und seinem seltsamen Gesichtsausdruck nach zu schließen, wusste er offenbar nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Auch Annit rührte die Begeisterung der Menschen zutiefst. Allein für diesen Augenblick hat sich die ganze Arbeit gelohnt, dachte sie. Und selbst als der Applaus schon längst verebbt war, erfüllte sie immer noch ein tiefes Glücksgefühl.
„Wir beide
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