Silence
nicht beschreiben kann. Es fühlte sich stark an, fast übermächtig. Das Heulen des Wolfes von draußen lockte mich, rief mich und ich wollte dem Ruf folgen.
Meine Augen fokussierten die Gittertür, die mich von meinem Artgenossen fernhielt. Ich senkte den Oberkörper, streckte die Vorderpfoten weit nach vorne und sprang in einem Satz in Richtung Tür. Der Mensch in mir wollte schreien, dass das Raubtier das gefälligst lassen sollte. Genug Schmerzen für heute. Aber der Wolf ignorierte mich. Rannte mit dem Kopf voran zur Tür. Im letzten Augenblick drehte er den Körper und prallte mit dem Schulterblatt gegen das Eisen. Es krachte, Putz rieselte. Der Wolf wiederholte den Angriff auf die Tür noch einige Male. Die Wolfs-Lisa erwies mehr Ausdauer und Mut, als die menschliche Lisa.
Mit dem nächsten Aufprall riss die Tür aus der Verankerung und fiel krachend erst auf Dantes Liege und dann auf den Boden. Jaulend leckte ich mir eine wolkengraue Vorderpfote, die unter eine der Eisenstreben geraten war. Dann rannte ich auf die Treppe zum Obergeschoss zu. Der Kampflärm von draußen war angeschwollen und das Klirren der Schwerter schmerzte mich in meinen empfindlichen Ohren. Schreie wurden von Wolfsgeheul abgelöst.
Ich lief auf die offene Eingangstür zu. Meine Wolfskrallen schabten über den Marmor im Eingangsbereich. Das orange Licht der Abenddämmerung fiel zur Tür herein. Vor der Tür zögerte ich kurz, reckte die Nase in die Luft. Es duftete nach feuchtem Gras. Es hatte geregnet.
»Gib auf, Vincenzo!«, rief jemand. Ich erkannte Ermanos Stimme.
Der Mensch in mir wollte hinausstürmen, wollte Giovanni und Ermano in Sicherheit wissen. Das Raubtier in mir wollte kämpfen, sich auf seine Beute stürzen.
Vorsichtig setzte ich eine Pfote vor die Tür. Kieselsteine drückten sich in die lederne Haut meiner Pfoten. Rechts von mir konnte ich die Kampfgeräusche ausmachen. Meine Ohren drehten sich in diese Richtung. Gegen das Licht der untergehenden Sonne konnte ich dunkle Schemen ausmachen, die sich so schnell bewegten, dass ihre Gestalten immer wieder kurz verschwammen und dann einige Meter entfernt wieder auftauchten. Dann erschien ein Wolf hinter der Gruppe. Meine Wolfsnase filterte seinen Geruch sofort aus all den anderen Gerüchen heraus. Interessiert musterte ich das andere Tier einige Sekunden lang. In seinem rotbraunen Fell klebten Laub, Zweige und Gras.
Zögernd näherte ich mich weiter der Gruppe, die ihren Tanz gerade für einige Sekunden unterbrochen hatte. Das noch feuchte Gras fühlte sich kühl und weich unter meinen Pranken an.
Jetzt konnte ich die Schemen erkennen. Ermano, Giovanni, Dante und der Wolf umzingelten Vincenzo, der sich mit erhobenem Schwert verteidigte.
Ich schlich mich geduckt näher, meinen Kopf nahe über den Boden gedrückt. Meine Pfoten machten kein Geräusch, sanft und weich drückten sie sich in den feuchten Boden. Ich war auf der Jagd. Der Wolf in mir versuchte, sich eine Beute aus der Gruppe zu wählen, die leicht zu erreichen war. Der Mensch fragte sich, was zu dieser Szene geführt hatte. Warum stellte sich Dante gegen seinen Herrn, und wer war dieser andere Wolf?
Wieder begann die Gruppe ihren Tanz. Der fremde Wolf konnte nicht länger mit ihnen mithalten. Er umrundete die Gruppe und schien eine Möglichkeit zum Angriff zu suchen.
Mit meinen Wolfsaugen beobachtete ich das Spiel eine Weile. Ich verstand, warum die Vampire es nicht schafften, Vincenzo zu besiegen. Er war viel schneller als sie. Sein Körper schien zu verschwinden und tauchte dann für den Bruchteil einer Sekunde wieder auf. Es sah aus, als würde er springen. Nur, wenn er sich so durch den Raum bewegen konnte, warum sprang er dann nicht aus dem Kreis heraus?
Der Wolf in mir wurde unruhig. Er wollte sich in den Kampf drängen. Ein erwartungsvolles Gefühl breitete sich tief in mir aus. Ich lief weiter auf die Gruppe zu, als diese wieder in ihrem Tanz erstarrte und alle Augen für den Bruchteil einer Sekunde auf mich gerichtet waren.
Ich knurrte tief aus meiner Kehle. Das Verlangen zu jagen, meine Zähne in Fleisch zu schlagen wurde schier überwältigend. Mit jedem Schritt, den ich mich näherte, schlug mir der verführerische Duft von Blut entgegen. Das Raubtier brüllte hungrig in mir auf. Seine Instinkte übernahmen die Kontrolle über meinen neuen Körper.
Mein Blick wechselte zwischen den Gestalten. Ich suchte nach dem schwächsten Opfer, der Beute, die ich am einfachsten erreichen könnte. Ich
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