Silence
Wangen zuckte, sonst regte sich nichts in ihrem Gesicht.
»Das tut nichts zur Sache. Vincenzo ist tot. Er war die größte Gefahr für uns. Sein Ewiges Leben hat ihm das Hirn infiziert. Morgen beginnt dein Unterricht.«
»Ich weigere mich«, sagte ich trotzig.
»Dann bleibst du da drin. So oder so, du wirst dieses Gelände nicht verlassen können. Du kannst also am Unterricht teilnehmen, oder du kannst für alle Zeiten da drin bleiben.«
»Wozu dieser ganze Aufwand? Dieses Verstecken, Silence, die Schule? Was soll das alles?«
»Wir verstecken uns nicht, wir versuchen nicht auszusterben. Wir kämpfen ums Überleben. An dieser Schule lernt jeder Wolf, sich in der Welt da draußen unsichtbar zu machen. Nur die mit den besten Anlagen werden dann in unsere Städte geschickt, um Familien zu gründen.«
»Und alle anderen werden Zwangssterilisiert?« Warum erinnerte mich das an die Methoden von Vincenzo?
»Nein, sie dienen dem Allgemeinwohl. Nur die wenigsten von uns können sich fortpflanzen.«
»Und Allgemeinwohl ist was?«, fragte ich schnippisch.
»Sie arbeiten in unseren Städten oder in Einrichtungen wie dieser.«
Dann gab es also noch mehr solche Internate?
Ich betrachtete das reglose Gesicht der Frau, die meine Mutter sein sollte. Sie war zweifellos schön, aber ihre Augen waren kalt. Sie wirkte auf mich wie mitte dreißig. Sie war schlank, trug ein schwarzes Kostüm aus Stoffhose und Blazer, ein buntes Tuch um den Hals, ihr Haar war in einer strengen Frisur am Hinterkopf festgesteckt. Und wenn man genau hinsah, hatte sie wirklich Ähnlichkeit mit mir.
»Lerne ich dann auch so gefühlskalt zu sein?«
»Ja, das ist Teil der Ausbildung. Diese Gefühlskälte ist überlebenswichtig für uns. Gefühle können den Wolf wecken. Wenn wir sie nicht unterdrücken können, könnten wir uns verraten.«
»Wir sind also ein Volk von Feiglingen, das sich hinter hohen Mauern versteckt und ein Leben in den Schatten führt. Darauf habe ich keine Lust.«
»Du wirst es verstehen, wenn du erst einmal den Unterricht besuchst.«
Ich verstand es jetzt schon, schließlich kannte ich Vincenzos Geschichte, aber gab es keinen anderen Weg?
»Wie habt ihr mich gefunden?«
»Wir haben überall unsere Leute, und wenn ein Vampir so laut herumposaunt, dass sich die Prinzessin der Werwölfe in seiner Obhut befindet und diese gerade als vermisst gilt, dann wissen wir, was zu tun ist.«
»Ihr veranstaltet ein Blutbad«, warf ich ihr vor.
»Besser ein kleiner Kampf, als ein großer Krieg.«
Da hatte sie wohl recht. Also war es Vincenzos eigener Fehler, der alles verraten hatte. Seine kleine Party, die ihm die Aufmerksamkeit der Mächtigen der Vampirwelt sichern sollte, hat ihm am Ende die Aufmerksamkeit der Werwölfe und damit den Tod gebracht. Und vielleicht auch Giovanni und Ermano, dachte ich und schloss für einen Moment müde die Augen. Ich konnte die Angst und die Trauer um die beiden Vampire spüren, aber die Gefühle kamen nicht hoch. Dabei wollte ich so gerne weinen und schreien und toben, ob dieser Ungerechtigkeit.
Lissianna wandte sich ohne ein Wort des Abschieds ab und ging. Ich wollte nicht hier sein, wollte ich nie. Das einzige, was ich wollte war Giovanni. Wie sollte ich hier in die Schule gehen, wenn ich nicht wusste, ob er noch lebte? Ich musste einen Weg hier raus finden. Ich musste mich selbst davon überzeugen, dass die Wölfe ihn zerfetzt hatten. Und ich würde es nicht hinnehmen, eine Gefangene zu sein.
Kate! Sie musste mein Weg hier raus sein. Sie war schon län ger hier, sie kannte sich hier aus. Bestimmt würde sie mir helfen können. Ich stöhnte frustriert auf, als ich merkte, dass mein Leben wieder einmal in Kates Händen lag. Kate, die immer alles für mich richtete.
In der Zelle gegenüber meiner bewegte sich etwas. Ich sah auf und mir blieb fast das Herz stehen, als ich Mrs. Walsh erkannte.
»Mrs. Walsh!«, stieß ich überrascht aus.
»Lisa! Ich hatte so gehofft, dass du es schaffst.«
»Was schaffe?«
»Ihnen zu entkommen.«
Ich runzelte die Stirn, weil ich überhaupt nicht verstand.
»Als die Vampire nach Silence kamen, wusste ich, dass ich handeln muss. Also habe ich dich immer wieder mit ihnen zusammen an Hausaufgaben gesteckt. Ich wusste nicht, wer sie waren, aber sie erschienen mir die einzige Möglichkeit, dir zu zeigen, dass Vampire nicht die Monster sind, für die wir sie halten. Lisa«, sagte sie und legte die Hände gegen die Scheibe. »Du bist die zukünftige Herrscherin. Du bist
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