Silence
Druck mich aus diesem Gefängnis zu befreien wuchs und wuchs. Ich fühlte mich gefangener als in Vincenzos Kerker. Lebte er noch? Selbst der Gedanke an seinen Tod strich melancholisch über meine Seele hinweg. Trotz all dem, was er getan hatte, fühlte ich mich traurig. Vincenzo war auf seine Art etwas Besonderes.
»Sorgen? Uns sind Gefühle verboten. Gefühle sind überflüssig. Du wirst hier sehr schnell lernen, wie viel besser du ohne sie dran bist.«
»Ist es das, was sie mit dir gemacht haben? Sie haben dir deine Gefühle genommen? Dir dein Gehirn gewaschen?«, sagte ich jetzt schon etwas wütender.
»Wenn du es so nennen willst? Ich nenne es befreit sein.«
»Du bist ein Zombie, Kate. Du bist das, was wir beide an meiner Mutter gehasst haben.«
Kate wandte sich dem kleinen Wecker auf ihrem Nachttisch zu. »Es ist Zeit für das Abendbrot. Du musst dir noch eine der Uniformen anziehen, sonst bekommst du kein Essen. Sie sind streng hier, was die Kleiderordnung betrifft.«
»Ich gehe so.«
»Dann wirst du nichts zu Essen bekommen«, sagte Kate .
»Auch gut, dann bleibe ich am Besten gleich hier.«
»Wenn du jetzt nicht isst, bekommst du morgen den ganzen Tag nichts.«
Ich verdrehte die Augen. Genau so hatte ich es mir hier vorgestellt. Man würde von Regeln und Gesetzen unterdrückt. Mit einem Seufzen , begann ich mich umzuziehen. Ich beschloss, dass es das Beste war, mich in den nächsten Tagen möglichst gut einzufügen. Wenn alle glaubten, ich würde mich hier anpassen, dann würde eine Flucht vielleicht deutlich einfacher werden. Wenn man überhaupt von einfach sprechen konnte.
Murrend zog ich die marineblaue Stoffhose, die weiße Bluse und das ebenfalls marineblaue Strickjäckchen über und folgte Kate, die schweigend vor mir her in das Unterrichtsgebäude lief. Als wir in dem großen Speisesaal ankamen, waren die Plätze schon fast alle belegt. Auch hier waren die Reihen getrennt nach: noch nicht gewandelt, Frischlinge und Abgänger. Zumindest gab es hier keine Geschlechtertrennung. Als Kate mit mir an einigen Schülern unserer Klasse vorbeilief, erkannte ich Michelle und auch Kirsty aus Silence wieder. Die meisten anderen Gesichter waren mir fremd. Sie mussten aus anderen Städten kommen.
Wir setzten uns irgendwo in die Mitte unserer Reihe. Niemand nahm wirklich Notiz von uns, nur in Kirsty s Gesicht blitzte so etwas wie Wiedererkennen auf. Als Kate sie ansah, senkte sie aber sofort wieder ihren Blick auf ihren Teller. Vor uns auf der langen Tafel standen unzählige Schüsseln mit Essen, kalte und warme Speisen, Salate und Desserts. Ich nahm mir etwas von dem Salat und eine Schokoladencreme mit Kirschen. Dann löffelte ich träge vor mich her.
Wie konnte ich nur hier gelandet sein? Was war mit Giovanni und Ermano passiert? Sie hätten nie zugelassen, dass man mich mitnahm, wenn es ihnen gut ging. Waren sie wirklich nicht mehr am Leben? Diese Möglichkeit schob ich weit von mir. Ich wollte sie einfach nicht in Betracht ziehen.
Ich grub in meinem Gehirn nach einer Erklärung, wie ich in die Fänge der Wölfe geraten war, aber da war nichts. Nur die Gedankenstimmen der anderen Menschen im Saal. Meine Kette hatte ich Giovanni gegeben, bevor Vincenzo mich in die Zelle gesperrt hatte. Ich wollte nicht, dass sie verloren ging. Ohne diese Kette war ich jetzt den Gedanken aller Menschen hier ausgesetzt. Wahrscheinlich nicht aller. Ich war mir sicher, dass es hier einige wie Kate gab, die wussten, wie man diese Gabe kontrollierte.
Meine Augen strichen über die Neulinge. Sie hatten ihre erste Wandlung noch vor sich. Es waren vierundzwanzig junge Menschen an dem Tisch. Wie viele von ihnen würden es an unseren schaffen? Ein Zittern durchfuhr mich als ich mich an die qualvollen Schmerzen der Wandlung erinnerte. Würde es jedes Mal so sein? Dann war ich froh, dass sie uns hier unter Drogen setzten. Ich wollte mich nie wieder in einen Wolf verwandeln. Ich wusste, dass Diazepam Valium ist, nichts, was man auf die Dauer nehmen sollte, aber da es wirklich zu funktionieren schien, konnte ich doch ohne schlechtes Gewissen an meine Flucht denken? Ich würde draußen einfach weiter dieses Zeug schlucken und müsste mich nicht mehr wandeln. Und dann wäre ich für niemanden eine Gefahr mehr. In meinem Bauch kribbelte es aufgeregt, ich würde hier rauskommen. Irgendwie. Und dann würde ich Giovanni finden. Ich rieb mir den schmerzenden Kopf. Ich sehnte mich nach dem warmen Gefühl, das mich überkam, wenn Giovanni
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