Silence
konnte ich nichts machen.
»Ermano ist nicht der Typ, der schlecht über andere spricht. Also nichts. Wenn zwischen euch eine Art Bruderkrieg im Gange ist, dann haltet mich gefälligst da raus.« Ich schob Giovanni aus dem Weg und ging zum zweiten Mal auf die Tür zu.
Du magst ihn , hallte es in meinem Kopf.
»Ja«, flüsterte ich. Als ich mich umdrehte, war Giovanni verschwunden. »Ich mag euch beide«, flüsterte ich noch leiser.
Ich schlich mich ins Haus und schüttelte den Kopf darüber, dass Giovanni immer einfach verschwand, als würde er sich in Luft auflösen. Meine Tasche ließ ich auf ihren Platz hinter der Tür gleiten und mich mit dem Rücken gegen die Wand auf den Boden. Dann zog ich die Knie an und vergrub mein Gesicht in meinen Armen. Erschöpft schloss ich die Augen und atmete ein paar Mal tief durch.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt?« Meine Mutter kam die Treppen herunter gepoltert und blieb, die Arme in die Hüften gestemmt, vor mir stehen. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich von diesen Jungs fernhalten?«
Erschrocken starrte ich sie an. Hatte sie nicht ein paar Bürgern von Silence auf die Schulter zu klopfen, die Hand zu schütteln oder aufmerksam zuzuhören?
»Ich habe für meinen Auftritt morgen geübt. Und wenn du dich nur etwas für mich und die Schule interessieren würdest, wüsstest du, dass ich morgen zusammen mit einem von diesen Jungs auf der Bühne stehen werde«, antwortete ich müde. Ich war viel zu erschöpft, um mich jetzt mit meiner Mutter über meinen Umgang mit wem auch immer zu streiten. Meine Mutter runzelte die Stirn.
Mühsam rappelte ich mich vom Boden auf und ging einfach an meiner Mutter vorbei zur Treppe. Ihre Haare fielen ihr in warmen Wellen bis zur Taille hinunter. Ich registrierte das im Vorübergehen neidisch. Mit offenen Haaren bekam ich die sonst so kühle und reservierte Frau selten zu sehen.
»Ich rede mit dir, junges Fräulein«, sagte sie. Und ich wünschte, sie würde nur einmal so etwas wie Gefühle zeigen. War es denn so schwer zu schreien, wenn einem danach ist?
Am Fuß der Treppe blieb ich abrupt stehen und stieß, ohne mich nach ihr umzusehen, zwischen den Zähnen hervor: »Die Jungs sind in meiner Klasse. Es wird sich wohl kaum vermeiden lassen, Kontakt zu ihnen zu haben.« Woher wusste sie überhaupt, dass ich mit Giovanni und Ermano zusammen war? Hatte sie uns vor dem Diner gesehen?
Ich hatte die ersten Stufen schon erklommen, als meine Mutter ihre Tirade fortsetzte: »Ich würde dir raten, dich nicht zu tief in diese Sache zu verrennen. Lange bleiben sie sowieso nicht mehr in Silence.« Dann ließ sie mich stehen und verschwand im Büro gegenüber der Küche.
Mit einem lauten Knall hieb ich die Tür zu meinem Zimmer zu und ließ mich dagegen sinken. An meinem Bett hing das grüne Kleid noch genau da, wo Ermano es hinterlassen hatte. Ich zog einen meiner Schuhe aus und warf ihn danach. Der Schuh traf das Kleid dort, wo die weiße Schnürung verlief, und landete dann polternd auf dem Boden.
Was glaubten die beiden, was sie mit mir machten? Erst stürzten sie mich in dieses Gefühlschaos, um mich dann wieder zu verlassen? Woher wusste meine Mutter, dass sie wegziehen würden? Ich hatte angenommen, Giovanni, Ermano und ich, wir wären so etwas wie Freunde. Hätten sie mir dann nicht sagen sollen, dass sie Sile nce wieder verlassen würden?
Tränen liefen mir heiß über mein Gesicht. Ich war so wütend. Wütend auf die Italiener, wütend auf meine Mutter, aber vor allem wütend auf mich. Wütend, weil ich zugelassen hatte, dass sie mich in ihren Machtkampf h ineingezogen hatten. Verzweifelt, weil ich für beide mehr empfand, als gut für mich war, und schockiert darüber, dass mich der Gedanke fast umbrachte, dass sie Silence verlassen würden. Warum verschwiegen sie mir das?
10. Kapitel
Am nächsten Morgen steckte ich Julias Kleid nur widerwillig in einen Kleidersack. Ich wusste nicht, was ich mehr fürchtete: Meinen Auftritt vor mehr als zweihundertsechzig Schülern, wovon ein großer Teil genauso wenig bereit war, die Vergangenheit zu vergessen wie ich? Oder Giovanni und Ermano wiederzusehen?
Mit einem Knoten von der Größe eines Footballs im Magen bereitete ich mich auf die Schule vor.
Da meine Stimmung einen Tiefpunkt erreicht hatte, verlegte ich mich darauf, meine Kleidung für den heutigen Tag dieser anzupassen. Ich streifte mir einen ka rtoffelsackähnlichen weiten, cremefarbenen Pullover über und versteckte so auch
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