Silence
ist sie auch nicht«, antwortete ich entrüstet.
»Nein, sie geht ab sofort auf das Prinz Wilhelm Internat in Deutschland.«
Ich schnappte verzweifelt nach Luft. »Aber, davon hat sie nichts gesagt«, flüsterte ich, weil mir die Stimme versagte.
»Nein, sie wusste es auch nicht.« Kates Mutter drückte mir einen Karton in die Hand. »Das soll ich dir g eben. Kate wollte, dass du das bekommst.«
Verwirrt klammerte ich mich an den Karton. Kate wollte, dass ich das bekomme. Wenn das nicht nach Abschied auf unbestimmte Zeit klang?
»Sie kommt doch zu Besuch? Zu Weihnachten?«, fragte ich verzweifelt, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Das wissen wir noch nicht. Aber wahrscheinlich nicht.« Kates Mutter schlug mir die Tür vor der Nase zu und ließ mich einfach stehen.
Fassungslos starrte ich auf das dunkle Holz der Haustür. Kate in Deutschland? Aber sie konnte mich doch nicht einfach verlassen. Nicht jetzt, wo ich an einem Punkt in meinem Leben war, an dem ich sie brauchte. Mehr als jemals zuvor. Nicht dass ich sie früher nicht gebraucht hätte. Wie konnte das passieren? Und wie konnte ich nichts davon gewusst haben?
Wie ein geprügelter Hund schlich ich mich nach Hause. Ich stellte den Karton vor dem Brunnen ab und setzte mich auf den Rand. Eine Windböe zerrte an meinen Haaren. Genervt strich ich ein paar Strähnen zurück hinter meine Ohren. Mit Tränen im Gesicht starrte ich auf den letzten Rest einer Freundschaft, die mir mein Leben lang Halt gegeben hatte. Der einzige Mensch, der mich verstand, der immer für mich da war, seit Mariana gestorben war, war fort und ich hatte nichts bemerkt, weil ich mit meinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war.
Wieso hatte Kate sich nicht wenigstens verabschiedet? Wieso war sie einfach so davongeschlichen? Ich war so wütend auf Kate. Und ich war wütend auf mich. Ich hatte Kate im Stich gelassen. Ich hatte nur an mich gedacht. Die ganze Zeit über hatte ich nur mich und meine Sorgen im Kopf gehabt. Vielleicht hatte ich die Zeichen einfach übersehen? Aber eine Freundin sollte so etwas nicht übersehen.
Bestimmt hatte Kate versucht, es mir zu sagen, und ich hatte einfach nicht zugehört.
Der Pappkarton bekam einen kräftigen Tritt, den dieser damit quittierte, seinen Inhalt auf der mit buntem Laub bedeckten Wiese zu verstreuen.
Ich kniete mich neben die Überreste einer der wichtigsten Freundschaften meines Lebens und begann, sie wieder in den Pappkarton zu sammeln. Da war die CD von Ghost of the Robot, die wir immer anhörten, wenn wir in Kates Zimmer über unseren Hausaufgaben brüteten. Einmal hatten wir Good Night Sweet Girl selbst gesungen. Kate hatte uns auf ihrer Gitarre begleitet und wir hatten das Video auf YouTube veröffentlicht. Damals waren wir vierzehn und beide vollkommen verliebt in James Marsters, den Sänger der Band.
Als Nächstes fischte ich unser Freundschaftsbuch aus dem Rasen. Unser Freundschaftsbuch war im Grunde ein Tagebuch, in dem wir beide unsere Gedanken und Erinnerungen festhielten. Ich blätterte darin und blieb an einem Eintrag vom Sommer diesen Jahres hängen, den wir gemeinsam geschrieben hatten, als Kate entdeckt hatte, dass ich ihre Gedanken lesen kann. Wir hatten dem Tagebuch unsere grundverschiedenen Ansichten zu meiner ne uen Gabe mitgeteilt.
Liebes Tagebuch!
Ich kann Gedankenlesen. Kate meint, das wäre großartig und hätte unzählige Vorteile für mich. Ich sehe keine. Ständig schwirren irgendwelche Stimmen und Bilder durch meinen Kopf. Seit Tagen habe ich starke Migräne. Und das, wo ich sowieso schmerzempfindlich bin. Mir geht es nur noch gut, wenn ich mich in meinem Zi mmer einsperre.
Liebes Tagebuch, wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann den, dass dieser Fluch bald aufhört.
Deine Lisa
PS: Hallo Tagebuch! Ich bin es Kate. Hör nicht auf Lisa. Du kennst sie ja, sie jammert immer viel rum. Es gibt doch nichts Schöneres, als in die Köpfe von anderen hineinschauen zu können. Man erfährt ihre Geheimnisse – auch die schmutzigen. Man lernt ihre Träume kennen, weiß, was sie denken, fühlen. Ich finde, das ist kein Fluch, sondern eine Gabe.
Gruß Kate
Darunter entdeckte ich einen Eintrag, den Kate später dazugeschrieben haben musste.
Liebes Freundschaftsbuch,
Heute ist es passiert. Lisa kann meine Gedanken lesen.
Ist das jetzt eines der Zeichen, die meine Großmutter einmal erwähnt hatte? Heißt das, ich werde Lisa bald verlieren? Der Gedanke, Lisa nicht hier zu haben, wenn es bei mir bald
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