Silence
losgeht, macht mir Angst. Zumindest habe ich jetzt Gewissheit, dass es für Lisa kein normales Leben geben wird. Aber ich denke, bei ihr stand dieser Weg ohnehin vom Tag ihrer Geburt an fest. Ich hingegen habe noch Hoffnung. Warum nur dürfen wir nicht wissen, was mit uns geschieht. Wenn ich mir vorstelle, wie es für Lisa sein wird. Ich wünschte, ich könnte es ihr anvertrauen. Aber den Mut, mich zu widersetzen, so wie es meine Großmutter bei mir gemacht hat, den habe ich nicht. Vielleicht auch, weil ich nur mit Schweigen meine Großmutter schützen kann, vor dem, was man ihr antut, wenn herauskommt, was sie mir erzählt hat.
Aber was ist, wenn Lisa es in meinem Kopf liest?
Kate
Ich las den Eintrag zwei Mal. Was hatte Kate mir verheimlicht? Ich dachte, unsere Freundschaft basierte auf gegenseitigem Vertrauen. Nur deshalb hatte ich Kate überhaupt eingeweiht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich ohne wichtigen Grund belog. Aber was konnte so bedeutend sein, dass sie unsere Freundschaft riskierte?
Ich setzte mich mit dem Tagebuch in der Hand wieder auf den Rand des Brunnens. Nach einem Eintrag über Giovanni und Ermano und unseren ersten Schultag in diesem Schuljahr fand ich noch einen letzten Eintrag vom W ochenende, den Kate verfasst haben musste, nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Eltern sie auf das Internat nach Deutschland schicken würden.
Liebes Tagebuch,
Jetzt hat es auch mich erwischt und, so wie es aussieht, werde ich noch vor Lisa nach Deutschland gehen. Ich habe niemandem verraten, dass es bei Lisa schon erste Anzeichen der Wandlung gibt. Wenigstens so kann ich ihr noch etwas Zeit verschaffen.
Erst jetzt wird mir wirklich bewusst, was es mit Silence auf sich hat. Was auch immer meine Großmutter mir erzählt hatte, die Realität ist noch viel schlimmer. Ich wünschte, ich könnte Lisa die Wahrheit sagen über Silence, ihre Eltern und das Internat. Aber, so wie es aussieht, wird es sowieso nicht mehr lange dauern und sie wird alles erfahren. Ich hoffe nur, Lisa kann mir eines Tages verzeihen, dass ich ihr nicht die Wahrheit über den Tod von Kelly sagen konnte.
Lisa verzeih mir. Du bist nicht schuld. Wir sehen uns in Füssen.
Kate
11. Kapitel
Wie betäubt saß ich vor dem großen Wolf aus Stein, der um diese Tageszeit nicht den Mond, sondern die Sonne anheulte. Die Wahrheit über Kellys Tod? Was war die Wahrheit über Kellys Tod? Und wieso ging Kate davon aus, dass ich ihr bald nach Deutschland folgen würde? Was war mit meiner Freundin passiert? Diese beiden Einträge warfen so viele Fragen auf. Jede Einzelne davon schwirrte durch meinen Schädel, als suchte sie nach einer Antwort, die sie unmöglich finden konnte. Mir war bewusst, dass Kate versuchte, mir auf diesem Weg etwas mitzuteilen, nur was? Was wollte sie mir sagen?
Mit dem Handrücken wischte ich mir über das tränennasse Gesicht. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, unser Freundschaftsbuch in den Händen, doch irgendwann rappelte ich mich auf, fest entschlossen, Kate auf ihrem Handy anzurufen. Sie konnte mir nicht diese Brocken hinwerfen und glauben, damit käme sie durch. Eigentlich hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht, denn jetzt wusste ich, dass hier etwas passierte, was ich nicht verstand. Und was hatte all das mit Silence zu tun?
Ich klaubte die restlichen Andenken vom saftigen Grün des Rasens auf, verstaute sie wieder im Karton und kramte mein Handy aus meiner Schultertasche.
Nach kurzer Stille ertönte eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher des Telefons, die mir verkündete, dass die Person, die ich versucht hatte zu erreichen, derzeit nicht ans Telefon gehen konnte und ich es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen sollte. Entw eder war Kates Handy ausgeschaltet, oder sie hatte in ihrem neuen zu Hause keinen Empfang. Ich beschloss, ihr erst einmal eine Kurznachricht zu schicken, in der ich nur schrieb, sie solle sich bei mir melden. Einige Zeit lief ich vor dem Brunnen auf und ab und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Was ich aber wusste, war, dass ich etwas tun sollte, und dass Kate gewollt hätte, dass ich mich zusammennahm und verdammt noch mal herausfand, was mit mir los war.
Den Karton im Arm schleppte ich mich auf mein Zimmer und schickte Kate noch eine E-Mail, weil ich wusste, dass sie nirgendwo ohne ihren Laptop hingehen würde. Kate ohne Laptop war wie Kate ohne ihren rechten Arm.
Als Nächstes beschloss ich, das Internet für das zu nutzen, wozu es da war. Für
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