Silence
Informationen. Vielleicht würde mich etwas Recherche ablenken, also durchsuchte ich das World Wide Web nach dem Internat, auf das Kate – und, so wie es aussah, auch ich bald – verschleppt wurde. Meiner Meinung nach war ausgeschlossen, dass sie da freiwillig hingegangen war. Sie hatte sich immer sehr darüber gewundert, was einige unserer Mitschüler dazu bewog, ein Internat in Deutschland aufzusuchen. Ganz im Gegensatz zu mir fühlte Kate sich in Silence so wohl, dass sie hier nie weggehen wollte, obwohl sie das Kleinstadtleben manchmal langweilig fand.
Das Internat hatte den wohlklingenden Namen Prinz Wilhelm Internat zu Hohenschwangau. Den Bildern auf der dazugehörigen Website nach zu urteilen, war es ein großes weißes Gebäude mit einem hellroten Dach, zu dem noch weitere kleinere Gebäude gehörten. Die ganze Schule war weiträumig von Grünflächen und einem Wald umgeben und von einer hohen Mauer umschlossen. Ein Gefän gnis, dachte ich.
Der Website war zu entnehmen, dass nur Schüler, die bestimmte Voraussetzungen mitbrachten, dort aufgenommen wurden. Ob Kate diese Voraussetzungen erfüllte? Diese Frage musste ich mir gar nicht stellen. Ich wusste, dass sie es nicht tat. Weder war Kate besonders intelligent (nicht dass sie dumm war, aber sie glänzte eher mit einer normalen als herausragenden Intelligenz) noch in irgendetwas hochbegabt, wenn man mal von ihrem Talent absah, sich in den schuleigenen Computer zu hacken.
Genau das Gleiche konnte ich auch von Kirsty behaupten. Kirsty war weder eine gute Schülerin noch besaß sie irgendein erwähnenswertes Talent, das begründete, warum sie auf eine Schule für Hochbegabte ging. Entweder hatte ich mich auf die Website eines anderen Internats verirrt, oder die Schüler von Silence hatten diese Schule nie wirklich von innen gesehen und befanden sich eigentlich woanders.
So sehr ich mich auch anstrengte, ich fand kein anderes Internat, das so hieß wie das, welches die offizielle Partnerschule der Silence High war. Es gab nur dieses Internat in der näheren Umgebung von Füssen. Und die Bilder glichen denen, die in unserer Schule die Korridore zierten. Es konnte unmöglich ein Irrtum sein. Es musste sich um diese Schule handeln.
Ich entschied, mein Schuldeutsch zu testen und dort anzurufen. Rätseln würde mich nicht weiterbringen. Zuerst vergewisserte ich mich, dass ich jetzt zu keiner unmöglichen Nachtzeit anrufen würde. Erstaunlich, was das Internet alles konnte, wenn man ihm eine Chance gab, außerhalb der Welt von YouTube zu funktionieren. Da ich die Schule heute frühzeitig verlassen hatte, war es bei uns in North Carolina jetzt mittags 11:47 Uhr, was hieß, in Deutschland wäre es ca. 18:00 Uhr am Abend. Ich befand, dass das für ein Internat keineswegs zu spät war. Allerhöchstens Abendbrotzeit. Man sollte also meinen, dass man noch jemanden erreichen würde.
Ich wählte die Telefonnummer, die ich unter Kontakt gefunden hatte, und lauschte dem Freizeichen. Nach wenigen Tönen nahm am anderen Ende jemand ab und meldete sich zu meiner Überraschung auf Englisch.
»Prinz Wilhelm Internat für Hochbegabte, Verwaltung, Ms. Keller. Was kann ich für Sie tun?« Die Dame hatte einen leichten Akzent und ein Sing Sang lag in der Art, wie sie die Worte aneinanderreihte. Es hätte mich wenig gewundert, wenn sie gleich anfangen würde zu jodeln.
»Lisa Summer. Ich rufe aus Silence, North Carolina, an.«
»Hatte ich die Nummer doch richtig erkannt. Dann war Englisch ja eine gute Wahl«, sagte die Dame zufrieden. Ich fragte mich, wie viele Sprachen sie wohl beherrschte.
»Ich würde gerne wissen, ob eine Kate Tanner bei Ihnen zur Schule geht.«
»Einen Moment bitte.« Ich konnte durch das Telefon hören, dass sie etwas auf einer Computertastatur tippte. Kurz darauf meldete sie sich wieder zurück.
»Ja, sie ist hier bei uns gemeldet.«
»Könnte ich sie denn telefonisch erreichen?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Das ist leider nicht möglich. Wir legen Wert darauf, dass unsere Schüler durch nichts aus der Außenwelt von ihren Studien abgelenkt werden.« Außenwelt. Dass ich nicht lache. Also doch Gefängnismauern.
»Es wäre ein Notfall.« Ich legte einen bettelnden Unterton in meine Stimme, um Ms. Keller die Dringlichkeit meiner Angelegenheit klarzumachen, und hoffte, dass sie mein wütendes Schnauben überhört hatte.
»Es tut mir leid, aber da müsste ich erst Rücksprache halten, wenn Sie dann später noch einmal anrufen möchten?«
Ms. Keller
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