Silence
akzeptieren konnte, aber diese Art der Fortbewegung … Das war einfach alles andere als akzeptabel für mich. Mehr als mein Verstand ertragen konnte. Und dieser arbeitete gerade auf Hochtouren an einem Fluchtplan.
Die Tür stand offen, keinen Meter von mir entfernt. Giovanni auf der anderen Seite war weiter entfernt von mir als der Ausgang. Ich konnte versuchen, zur Tür zu gelangen und nach draußen zu laufen, aber was würde das bringen, angesichts der Geschwindigkeit, mit der Giovanni sich fortbewegen konnte?
»Du vergisst, dass ich deine Gedanken lesen kann. Das solltest du in deine Überlegungen einbeziehen.« Giovanni durchquerte den Raum und setzte sich auf eines der Matratzenlager. »Du kannst gehen, wenn du magst. Ich dachte nur, du würdest endlich wissen wollen, was mit dir los ist. Ich verspreche, ich werde dir nichts tun.«
Ich schluckte schwer, nickte dann aber.
»Vielleicht setzt du dich einfach auf das andere Bett, wenn du Angst hast, mir zu nahe zu kommen. Du musst dort nicht rumstehen.« Giovanni streckte mir eine Hand entgegen. Irgendwie wirkte er ein bisschen beleidigt. Ich hatte auf keinen Fall vor, ihn zu verletzen, aber was glaubte er, wie er auf diese Sache reagiert hätte? Ich meine, man trifft ja nicht jeden Tag auf einen Menschen, der so schnell ist, dass selbst Superman vor Neid erblassen würde.
Ich schlich mich zu der Matratze, die wohl Ermanos Schlafplatz sein musste, und ließ mich langsam darauf nieder, nicht ohne Giovanni genau im Auge zu behalten.
Giovannis Blick ruhte auf meinem Gesicht, als wollte er abschätzen, ob er es wagen konnte, mir die nächste Unglaublichkeit zu präsentieren. Mit einer Hand strich er sich eine Strähne aus den Augen, mit der anderen fischte er ein Bild unter seinem Kopfkissen hervor. Es war eine alte Bleistiftskizze einer Frau, die ein Kleid trug, das sehr viel Ähnlichkeit mit dem hatte, welches ich als Julia getragen hatte. »Das ist meine Mutter. Sie starb 1734 in Venedig.«
Ich schnappte nach Luft und wollte Giovanni so etwas wie »Du solltest einen Therapeuten aufsuchen« an den Kopf knallen, aber er fuhr einfach fort, ohne mich weiter zu beachten.
»Ich war siebzehn, als sie kamen. Zwei Männer. Sie stürmten mitten in der Nacht in unser Haus. Meinen Vater töteten sie, noch während er schlief. Sie zerrten meine Mutter aus ihrem Bett. Sie vergewaltigten sie vor meinen Augen. Ich wollte ihr helfen, doch der Mann, der mich festhielt, während sein Kumpan über meine Mutter herfiel, war so stark, dass jegliche Versuche, mich zu befreien, nichts nützten. Ich musste zusehen, wie sie meine Mutter erst folterten und dann töteten. Ich werde nie ihre Augen vergessen. Sie waren immer freundlich und lustig, doch in dem Moment, als sie starb, war nichts mehr in ihnen zu erkennen, was an die Frau erinnerte, die sie war, bevor diese Fremden ihr das angetan hatten.«
Giovanni hielt mir das Bild seiner Mutter hin und ich nahm es. Sie war eine wunderschöne Frau und ihre Augen wirkten freundlich. Sie sah aus wie eine Person, zu der ich schnell Vertrauen fassen könnte. Ein Teil ihrer Haare war kunstvoll hochgesteckt, der andere Teil fiel in Wellen über ihre Schultern bis hinunter auf ihr Dekolleté. Ich dachte darüber nach, was schlimmer für eine Mutter war; vergewaltigt zu werden oder zu wissen, dass das eigene Kind gezwungen war, dabei zuzusehen.
»Sie sieht dir sehr ähnlich«, flüsterte Giovanni. »Das ist der Grund, warum ich dich näher kennenlernen wollte. Du hast mich vom ersten Augenblick an magisch angezogen.«
Bei der letzten Bemerkung zuckte ich unwillkürlich zusammen und ich musste ein Keuchen unterdrücken.
Ich gab Giovanni das Bild zurück und er steckte es wieder unter das Kissen.
»Als Ermano kam, war es zu spät. Meine Eltern waren beide ermordet worden und ich hing irgendwo zwischen Leben und Tod fest. Ich wäre lieber gestorben, aber Ermano hatte andere Pläne mit mir.«
»Du willst mir also wirklich erzählen, du wärst …« ich rechnete schnell im Kopf nach »… 293 Jahre alt?«
»Ja. Ich weiß, kaum zu glauben.« Giovanni grinste wieder sein Grinsen, das in mir immer so verwirrende Gefühle auslöste.
»Also bist du ein Vampir?« Ich stellte die Frage nicht, weil ich wirklich an die Existenz von Vampiren glaubte – das tat ich nämlich nicht im Entferntesten – sondern, weil ich mir sicher war, dass Giovanni eine Therapie benötigte. Gut, er hatte diese alte Zeichnung von irgendeiner Frau, aber die konnte er auch
Weitere Kostenlose Bücher