Silenus: Thriller (German Edition)
existiert, muss eines Tages enden. Ich frage mich, wie ich sterben werde und wie das sein wird. Das wird überaus interessant, meinst du nicht?«
Dieser Gedankengang verblüffte George so sehr, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
»Ja. Ja, ich denke, das wird es«, sagte der Wolf. »Ich freue mich schon darauf. Alles in allem denke ich, zu existieren ist eine sehr seltsame und beängstigende Angelegenheit. Ich verstehe wirklich nicht, wie ihr das macht. Sag mir – wie geht ihr mit der Furcht um?«
»Der Furcht?«, fragte George.
»Ja. Diese Furcht, die von dem Gefühl kommt, dass du bist und dann auch … alles andere. Dass du in dir gefangen bist, ein winziger Punkt, vollkommen bedeutungslos im Angesicht von all dem allem, das je sein könnte. Wie schafft ihr das?«
George überlegte, wie er darauf antworten sollte. »Ich … ich schätze, wir denken einfach nie darüber nach.«
»Ihr denkt nie darüber nach!«, rief der Wolf aus. »Wie könnt ihr nicht darüber nachdenken, wenn ihr doch in jedem Augenblick damit konfrontiert seid? Ihr seid verloren inmitten einer großen, finsteren See ohne eine Küste in Sichtweite, und ihr alle geratet nur selten in Panik! Ich bin an manchen Tagen kaum funktionsfähig , also wie um alles in der Welt könnt ihr einfach nie darüber nachdenken?«
»Na ja, ich … ich glaube, wir lenken uns davon ab«, sagte George.
»Aber womit?«
»Ich weiß nicht. Mit allem Möglichen.«
Der Wolf schrieb hektisch mit. »Kannst du mir ein paar Beispiele nennen?«
»Beispiele?«
»Ja. Gibt es in deinem Leben keine Elemente, die nach deinem Gefühl besonders zur Ablenkung geeignet sind?«
George fragte sich, ob er sich nun selbst in eine Ecke geredet hatte, aber er glaubte, zumindest ein paar Dinge nennen zu können. Sein Vater, beispielsweise, stellte für ihn eine mächtige Ablenkung dar. Aber George wollte dem Wolf nichts über Silenus erzählen, denn das könnte für die Truppe gefährlich werden. Doch dann dachte er an etwas anderes, das in seinem Geist genauso viel Raum einnahm.
Und so erzählte er dem Wolf zu seiner eigenen Verwunderung von Colette. Er plauderte nichts Bedeutsames aus, aber er erzählte von »diesem Mädchen«, das so stark und schön war, und er beschrieb, wie sie einem mit einem einzigen Blick das Gefühl geben konnte, dumm oder auch schlau zu sein, und er sprach über ihre fragenden Augenbrauen und darüber, wie sie lachte, wenn sie wusste, dass sie nicht lachen sollte, was George besonders bezaubernd fand.
»Also liebst du sie?«, fragte der Wolf.
»Ich … ich nehme es an«, sagte George. »Ich kenne sie eigentlich gar nicht, nicht so gut, wie ich gern möchte. Und ich glaube nicht, dass sie mich wirklich wahrnimmt« Und dann konnte er nicht anders, er musste davon erzählen, wie sie stets abgelenkt und vertieft in die komplexen Mechanismen des Showgeschäfts war, und dass sie kaum Zeit, ja zumeist nicht einmal einen Blick für ihn übrig hatte. Und er gab zu, dass ihn das schrecklich schmerzte, aber in seinen Worten lag auch ein wenig Ablehnung: Sie war so tief in die Leitung der Truppe verstrickt, dass sie mehr Zeit mit seinem Vater verbrachte als mit ihm. Sie waren wirklich eins: Zwei Erwachsene, die ihn für ein Kind hielten, und George beneidete beide um die Aufmerksamkeit, die ein jeder vom anderen erhielt.
»Das hört sich an, als wäre manche Ablenkung schlimmer als das, wovon man sich ablenken will«, sagte der Wolf in Rot. »Gibt es für dich keine angenehmen Ablenkungen?«
George war ein wenig eingeschnappt angesichts dieser Worte, sagte aber, es gäbe durchaus welche. Da war zum einen Stanley, den George nur vage als »einen Freund« bezeichnete, und er erzählte, dass dieser Freund ihm immer Geschenke gebracht und ihn aufgemuntert und ihm Geschichten erzählt hatte; und einmal, als George in der Lobby eines Hotels eingeschlafen war, hatte Stanley ihn hinauf in sein Zimmer getragen und ins Bett gesteckt, und als George dort gelegen hatte, hatte Stanley einfach dagestanden und auf ihn herabgeschaut, ohne zu ahnen, dass George nun wach war, und ehe er gegangen war, hatte er tief geseufzt. Er hatte so fürsorglich gewirkt.
»Ich verstehe«, sagte der Wolf. »Und dieser Freund ist in dich verliebt?«
»Was?«, gab George erschrocken zurück.
»Dein Freund. Ist er in dich verliebt?«
»Verliebt? Nein, ist er nicht!«
»Nicht?«, sagte der Wolf und zog seine Notizen zurate. »Es hört sich aber so an, als wäre er es.«
»Das ist
Weitere Kostenlose Bücher