Silenus: Thriller (German Edition)
zeigte er in eine Richtung. »Wir fangen dort an.«
Sie gingen zu einer Ecke des Friedhofs. Silenus betrachtete die Grabstellen und die Grabsteine und achtete darauf, keine leere Grabstelle zu übersehen. Dann drehte er sich um, schaute zum Himmel empor und prüfte den Wind. Schließlich sagte er: »Da. Stell dich genau da hin.«
Er positionierte George vor einem sehr alten Grabstein mit der Aufschrift ARCHIBALD EHBERTS 1737–1799. »Ich muss also nichts weiter tun, als auf dem Grab dieses Mannes zu stehen?«
»Du hast es erfasst«, sagte Silenus.
»Musstest du mich wirklich nur deswegen den ganzen Weg hierher schleppen, Harry?«
»Lass mich meine Anweisung ergänzen: Steh dort und rede nicht .«
Verärgert tat George, was ihm gesagt worden war. Silenus setzte sich so auf das Gras, dass George zwischen ihm und dem Grabstein stand. Dann starrte Silenus das Grabmal an, fixierte die Worte, die dort geschrieben standen, mit furchterregender Eindringlichkeit. George wartete und fragte sich, was wohl geschehen würde. Bald lebte der Wind auf, und Grasbüschel streiften um seine Füße, und dann ergriff ein sonderbares Gefühl Besitz von George, beinahe, als würde etwas aus weiter, weiter Ferne auf ihn zustürzen.
Etwas zuckte in der Luft über dem Grabstein. Erst dachte George, es wäre nur Staub, aufgewirbelt von einer irregeleiteten Brise, doch er wurde nicht fortgeweht. Und als George genauer hinschaute, schien es ihm, als ordnete sich der Staub zu der Form einer Stirn und einer langen, schiefen Nase und Hängebacken …
»Was? Was ist das?«, krächzte eine ferne Stimme. Es klang eher wie ein Kratzen auf der Rückseite von Georges Schädel. »Was geht hier vor? Wo … wo bin ich?«
»Archibald Ehberts?«, sagte Silenus.
»Wer ist da?«, fragte die Stimme. »Wer seid Ihr? Ich … ich kann Euch nicht sehen … War ich nicht gerade noch in meinem Bett, und habe ich nicht gerade noch geschlafen? Dort geschlafen, und dann, später … später habe ich im Dunkeln geschlafen …«
George war so erschrocken, dass er sich kaum mehr rühren konnte. Inzwischen glaubte er, Schultern zu erkennen, gebeugt und furchtbar verkrümmt, so wie die von einem schrecklich alten Mann.
»Wir haben Euch geweckt, guter Herr, um Euch eine einfache Frage zu stellen«, erklärte Silenus. »Ist Euch die letzte Ruhestätte von Finn MacCog bekannt? Es heißt, er läge hier in dieser Erde, die auch Ihr teilt?«
»Ihr habt mich geweckt? Wie?«
»Die Frage, Sir«, sagte Silenus geduldig. »Wir wünschen lediglich eine Antwort auf diese Frage, dann werden wir Euch wieder schlafen lassen.«
»Derlei Ding weiß ich nicht«, sagte die Krächzstimme. »Ich bin nur ein Schuster, ein einfacher Schuster. Ich habe einfach gelebt und bin einfach gestorben. Solche Dinge übersteigen meine Fähigkeiten. Ich weiß nicht …«
»Habt Dank«, sagte Silenus und winkte George zu, er solle zur Seite treten. George tat es, und das undeutliche Bild in der Luft schien einfach zu verdampfen.
»W-was war das?«, fragte George. »War das ein … war es ein G…«
»Es war ein Echo«, sagte Silenus. »Ein Echo eines vergangenen Lebens. Habe ich dir nicht erzählt, dass sich die Zeit hier aufgestaut hat wie ein unterirdischer See? Alles, was notwendig ist, ist, einen winzigen Tropfen an gewissen Stellen fallen zu lassen, und während sein Aufprall Kreise zieht und wieder zurückhallt, könnten wir aufmerksam zuhören und etwas lernen.« Er ergriff seine Tasche und ging weiter über den Friedhof.
»Und was lassen wir herabtropfen, um dieses Echo zu erzeugen?«, fragte George, als er ihm folgte.
»Kannst du dir nicht denken, warum ich dich hergebracht habe, George? Durch welche besondere Eigenschaft magst du wohl für diese Aufgabe geeignet sein?«
»Die Weise, nehme ich an.«
»Sehr gut. Jeder Teil der Weise ist mit der ganzen Existenz verbunden. Sie ist die ganze Existenz in einer sehr straffen, gebündelten Form, unabhängig von Zeit oder Ort. Du trägst ein Stück der Ewigkeit nahe deinem Herzen, George, nur ein kleines Stück. Aber mehr braucht es nicht, um die schwachen Echos hervorzurufen, die wir benötigen. Manchmal ist es verdammt praktisch, dass du in der Nähe bist.«
Auf diese Weise gingen sie weiter über den Friedhof. George stellte sich vor den Grabsteinen auf, und Silenus konzentrierte sich und lockte jene sonderbaren, schauerlichen Gesichter und Stimmen hervor. Die meisten stammten aus dem späten achtzehnten Jahrhundert, aber
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