Silenus: Thriller (German Edition)
manchmal unterlief Silenus ein Fehler, und er rief jemanden aus dem neunzehnten herbei. Wenn dies geschah, entließ er denjenigen sogleich, allerdings zu dessen großer Verblüffung und Empörung. Einmal entstammte das Echo, das sie riefen, gar nicht der Person, deren Name auf dem Grabstein zu lesen war, doch weder George noch Silenus brachten es über sich, ihm zu sagen, dass man es im falschen Grab beigesetzt hatte.
Doch egal, wann sie gestorben oder wer sie gewesen waren, keines der Echos konnte sagen, wo Finn MacCog begraben war. »Ich bin nur ein einfacher Weber«, hieß es, oder ein einfacher Bauer oder ein einfacher Geistlicher oder eine einfache Frau, ein Christ, ein Sohn. Sie alle hielten sich beharrlich an einer kleinen Bezeichnung fest und wagten nicht, irgendein darüber hinausgehendes Wissen zu äußern.
Beide waren zunehmend enttäuscht, vor allem George, der immer noch übler Laune war. »Was plagt dich?«, fragte Silenus.
George wusste nicht recht, ob er ihm davon erzählen wollte. Andererseits sehnte er sich schon seit einer Weile danach, seinen Kummer loszuwerden, und wenn er mit seinem Vater nicht reden konnte, mit wem dann? Also berichtete er, während sie zwischen Grabsteinen und Gedenkstätten entlangwandelten, von den verwirrenden Ereignissen des Vorabends.
»Ich verstehe«, sagte Silenus, als George mit seiner Geschichte fertig war. »Weißt du … ich glaube, es wäre das Beste, wenn du Colette in Ruhe lassen würdest.«
»Warum?«
»Das Mädchen hat Probleme. Sie stammt aus einem harten, harten Umfeld. Ich muss es wissen, denn ich bin derjenige, der sie entdeckt hat.«
»Kann ich ihr dann nicht helfen? Kann ich … kann ich ihr nicht irgendetwas geben, um es ihr leichter zu machen?«
»Manche Leute wollen keine Hilfe«, sagte Silenus. »Und Colette ist so ein Mensch. Sie lebt von ihrem Stolz und von wenig anderem. Hilfe anzunehmen würde bedeuten, Schwäche einzugestehen.«
»Manchmal wirkt sie gar nicht so stolz. Manchmal wirkt sie eher, als würde sie sich schämen. Als wäre sie lieber jemand anderes.«
»Was meinst du damit?«, fragte Silenus.
George erzählte ihm von dem Abend, an dem sie die Minstrel-Nummer gesehen hatten, und dass sie sich anschließend nicht wie sie selbst verhalten hätte, sondern wie die Prinzessin, die zu sein sie so oft gezwungen war. Als er fertig war, verfinsterte sich Silenus’ Miene, erstarrte so sehr, dass George sich beinahe fürchtete, noch etwas zu sagen.
»Das kam mir nicht richtig vor«, sagte George nach einer Weile. »Sie sollte nicht umherziehen und … so tun als ob.«
»Richtig?«, wiederholte Silenus. » Richtig? Was zum Teufel weißt du über Richtig oder Falsch? Wer bist du, über sie zu urteilen? Hast du überhaupt eine Ahnung, wo sie herkommt? Wie man sie behandelt, wenn sie aufrichtig ist? Vielleicht muss sie dann und wann so tun als ob, weil die einzige Alternative darin besteht, sich eine Kanone in den Mund zu stecken und den einfachen Ausweg zu wählen! Vielleicht geht es nicht um Richtig und Falsch, sondern ums Überleben .«
»Überleben?«, fragte George erschrocken. »Was meinst du damit?«
»Wer möchte schon in einer Welt leben, in der er so behandelt wird? Vielleicht muss sie sich selbst etwas vormachen, nur damit sie morgens aufstehen und verdammt noch mal zur Tür hinausgehen kann! Was Colette tut, ist nichts Neues, George. Sie tut nur das, was Menschen auf der ganzen Welt getan haben, und zwar seit Anbeginn der Zeit – sie tut so, als wäre die Welt etwas, das sie nicht ist, damit sie sich besser fühlen kann. Denkst du, diese Mistkerle, die bei der Minstrel-Nummer gelacht haben, wären irgendwie anders? Während sie so tun, als wären Farbige nur Clowns oder Tiere? Das sind sie nicht, und tief im Inneren wissen das auch diese Dummköpfe, aber sie fühlen sich besser, wenn sie tun, als wäre es so. Das habe ich schon überall gesehen, an jedem beliebigen Ort. Immer hat es irgendeine hässliche Wahrheit gegeben, die die Menschen zu einer besänftigenden Lüge verdrehen oder, noch besser, ignorieren konnten. Und jetzt halt die Klappe und komm.«
Silenus’ Groll wuchs und wuchs, bis sein Auge auf einen Grabstein fiel: JOSEPH BLAKELY 1834–1872. Er hielt inne, zog eine Braue hoch, überlegte kurz, und sein Zorn verflog. »Hier. Komm her und stell dich vor diesen.«
»Aber der stammt nicht aus der Zeit, in der MacCog beerdigt wurde.«
»Das ist egal«, sagte Silenus. »Wir haben nichts zu verlieren. Und dieses
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