Silenus: Thriller (German Edition)
uraufgeführt. Er wird spielen, und du tanzt, wie es die Musik dir eingibt. Improvisiere den Tanz, fabuliere ihn während des Auftritts zusammen.«
George setzte sich an das Piano und warf einen Blick auf die Noten. Das Stück hieß Le Gibet , ein Satz aus einem umfassenderen Werk von jemandem, von dem er nie zuvor gehört hatte, einem Maurice Ravel. Er wusste gleich, dass dies anders war als alles, was er bisher gespielt hatte. Es schien trügerisch einfach, doch er erkannte, dass es unter der ruhigen Oberfläche von einer wirren Komplexität war (wenn es auch nicht ganz so schwierig war wie die beiden anderen Sätze des Stückes, auf die er nur einen kurzen Blick warf und erbleichte).
Hinter Colette schenkten die Diener der Dame den Whiskey aus, den Silenus ihr überreicht hatte. Er glühte in den kleinen Gläsern der Elfen, bis ihre Masken lampengleich aufleuchteten. Colette und George wechselten einen langen, nervösen Blick, ehe er zu spielen begann. Sosehr ihnen graute, konnte George nicht anders, er frohlockte in diesem Moment der Aufmerksamkeit. Das war das, was er sich mehr ersehnte als alles andere – mit ihr zusammen vor einem glamourösen Publikum aufzutreten. Trotzdem hätte er sich nie träumen lassen, dass es so werden könnte: Dieses Publikum war beängstigend, die Musik einschüchternd, und Colette schien ihm unerreichbarer denn je.
George atmete tief durch und fing an zu spielen. Beim ersten Laut des Pianos hätte er beinahe wieder aufgehört. Es hatte einen gespenstischen, hallenden Klang, wenngleich das auch der Musik selbst geschuldet sein mochte, einer sachten, leisen und schaurigen Reminiszenz an Kirchengeläut und einsame, schneebedeckte Wege. Colette tanzte zunächst gar nicht, sondern stand nur schwankend da, den Kopf gesenkt, so, als würde sie sacht vom Wind berührt. Und dann, ganz langsam, wurden ihre Bewegungen ausgreifender, und sie fing an, über den Tanzboden zu gleiten.
Nie zuvor hatte er sie so tanzen sehen. Er wusste, sie hatte Ballettunterricht gehabt, das war stets erkennbar gewesen, doch obgleich er sie von jeher bewundert hatte, hatte ihm eben diese Bewunderung den Blick auf ihr wahres Talent verstellt, das offenkundig gewaltig war. Für einen Moment waren sie beide in einen kurzen, perfekten Ablauf eingebunden, zwei Seelen, die gemeinsam zur Musik tanzten. Für George war es so wunderschön und betrüblich zugleich, dass ihm jede Note so scharf erschien wie ein Rasiermesser.
Sie endeten, wie sie begonnen hatten. Er spielte die gleichen sanften, sich wiederholenden Noten, und sie schwankte wieder sacht vor und zurück, bis sie schließlich stillstand. Ein kollektiver Seufzer rann durch die Menge, als sie fertig waren. Die Dame räusperte sich und sagte: »Gut. Das war sehr gut. Habt Dank dafür. Es war ein perfektes Ende für diesen Abend.«
Colette verließ rasch die Bühne, ohne sich noch einmal umzuschauen. Die Dame schaute ihr nach. »Sieh an, sieh an«, sagte sie. »Offenbar hat dieser Auftritt sie ebenso bewegt wie uns.«
Die Truppe wurde eingeladen, an dem Festmahl teilzunehmen, doch sie alle schlugen die Einladung aus; Aal, gerösteter Quetzal und Cocktails aus den Giftdrüsen von Albinoseeschlangen hörten sich für sie nicht sonderlich verlockend an. Stattdessen beschlossen sie, sich zur Nacht auf ihre Zimmer zurückzuziehen.
Stanley schrieb etwas, als sie die Treppe hinaufstiegen, und zeigte ihnen die Tafel: NICHT SPRECHEN. DIE DAME HAT WÄCHTER IM HAUS.
»Hast du sie gesehen?«, fragte Silenus leise.
Stanley löschte die Tafel und schrieb: NICHT GESEHEN. ABER ICH WEISS, DASS SIE DA SIND.
»Dann sollten wir einander für den Rest der Nacht nicht mehr sehen«, bestimmte Silenus. »Wir brechen früh am Morgen auf, so früh wir können.« Er nickte George zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ruh dich heute Nacht einmal richtig aus, ja?«
George brachte ein Nicken zustande. Dann wandte sich sein Vater ab und verschwand in seinem Zimmer. George blickte ihm nach und fühlte sich mies. Während er das tat, fiel ihm auf, dass Stanley ihn beobachtete, und dessen Anblick erinnerte ihn sehr daran, wie er sich fühlte: Sein Gesicht wirkte angespannt, die Wangen eingefallener denn je, die Stirn düster. Und doch war da immer noch die Wärme hinter Stanleys Augen, diese mitfühlende Güte, die das Gefühl vermittelte, Stanley kenne all deine Probleme und könne alles Getane vergeben, und für einen Moment wollte George zu ihm gehen und ihm alles erzählen:
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