Silenus: Thriller (German Edition)
du, dass ihm ein Leid geschieht?«, fragte die Dame. »Du bist ein Mitglied seiner Reisegesellschaft, nicht wahr?«
»Nein«, antwortete Franny. »Das bin ich nicht. Nicht ich .«
»Nicht? Was soll das bedeuten?«
»Er hat mir Leid zugefügt«, sagte Franny. »Schweres Leid.«
»Dir hat er Leid zugefügt? Wie?«
Franny schwieg. Als sie wieder das Wort ergriff, zitterte ihre Stimme. »Erkennt Ihr mich nicht, Mylady?«
Ofelia sagte nichts. Dann setzte sie sich sehr, sehr langsam auf. »Willst du … willst du behaupten, du wärest …«
Franny nickte.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft bröckelte Ofelias abgeklärte Erhabenheit. Sie hob eine Hand an die Maske und schüttelte zutiefst erschrocken den Kopf. »Oh … «, sagte die Dame. »Ich … ich dachte , ich würde dich kennen, als ich dich zum ersten Mal sah. Und als du deinen Golbot gefertigt hast, war ich beinahe sicher, dass du aussiehst wie jemand, den ich kenne. Aber es ist so lange her, selbst für diesen Ort …«
»Ja«, sagte Franny. »Es ist so unendlich lange her.«
»Ich kann mich kaum an dich erinnern. Wenn das, was du andeutest, die Wahrheit ist, dann … nun ja. Ich verstehe, warum du ihm übelwillst.« Die Dame dachte nach. »Was möchtest du, dass ich mit ihm mache?«
»Ich will, dass er leidet, wie ich gelitten habe«, sagte Franny. »Ich will, dass er eingekerkert wird oder um den Verstand gebracht, ich will, dass er Jahrzehnte seines Lebens in dem gleichen Nebel, dem gleichen Dunst zubringen muss, in dem ich verloren war. Ich will, dass er sieht, was er mir angetan hat, welchem Fluch er mich ausgesetzt, wie er mich zerstört hat. Ich will, dass er das erfährt. Ich will, dass er meinen Schmerz erfährt. Das ist alles, was ich will.«
Ofelia saß sehr still auf ihrem Thron. Ihr bleiches Gesicht wankte vor und zurück, während sie nachdachte. Schließlich nickte sie. »Einverstanden«, sagte sie. »Er soll dein Leid erfahren. Ich habe bereits zugestimmt, ihm dabei zu helfen, das nächste Stück dieser albernen Weise zu erlangen, und diese Vereinbarung muss eingehalten werden. Aber danach werde ich dir mit Freude geben, was du begehrst.«
»Danke«, sagte Franny. »Vielen, vielen Dank.«
»Danke mir nicht«, winkte die Dame ab. »Du hast mir schon genug Gefälligkeiten erwiesen.«
Franny wandte sich zum Gehen. George schlich von der Tür fort, versteckte sich hinter einer der vielen Statuen in dem Haus und sah zu, wie sie vorüberging. Er sah, dass ihre Wangen von Tränen benetzt waren, doch als sie sie getrocknet hatte, sah sie keineswegs traurig aus.
Als er wieder in seinem Zimmer war, setzte sich George auf das Bett und dachte nach. Er wusste nicht recht, was er gerade mitangehört hatte. Nie hatte er erlebt, dass Franny einen Groll gegen irgendjemanden hegte. Außer, so fiel ihm nun wieder ein, damals, als sie von Georges Herkunft erfahren hatte. Da schien sie wütend auf Silenus gewesen zu sein. Doch das, was er gerade gesehen hatte, schien sich auf ein viel älteres und viel, viel entsetzlicheres Verbrechen zu beziehen.
Er überlegte, was er nun tun sollte. Er wusste, er sollte seinen Vater unterrichten; oder, genauer, er sollte ihn unterrichten wollen . Doch in jüngster Zeit hatte er so viel über seinen Vater erfahren, und darunter war nur wenig Angenehmes. Er hatte zugelassen, dass Kingsley den Verstand verloren hatte. Er hatte Ofelia und Franny unrecht getan. Und Colette (wie George sich beharrlich weiter einredete), und er hatte die ganze Truppe belogen. Jahrelang hatten sie die Grenze zwischen Licht und Dunkel nicht geschützt. Wenn überhaupt, dann hatten sie zugelassen, dass die Grenze durchlässig wurde. Wer wusste schon, was er sonst noch für sich behielt?
George jedoch wusste, dass es trotz allem sein Wunsch sein sollte, seinen Vater zu informieren. Das war es, was ein Sohn tun sollte. Er sollte seinem Vater helfen. Doch rückblickend betrachtet, hatte sich Silenus so oder so nie wie ein Vater verhalten. Er hatte George wenig Zuneigung entgegengebracht und sogar dafür gesorgt, dass sein eigenes Kind gedemütigt wurde. Er war stets distanziert, er war ihm fremd geblieben, und er war oft grausam. George ging auf, dass von allen, die ihn je zurückgehalten, ihm je den Weg zum Erfolg versperrt hatten, Silenus stets das größte Hindernis dargestellt hatte und die größte Enttäuschung, und George erkannte, dass er im Herzen Hass für diesen Mann empfand. Silenus hatte alles, was George sich je gewünscht
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