Silenus: Thriller (German Edition)
gingen ihm durch den Kopf, ein jedes geeignet, zu ihr durchzubrechen, wie er glaubte. Doch wann immer er aufblickte und ihren eisigen Blick sah, wusste er, dass in Wahrheit jedes von ihnen unbesonnen und inhaltslos war, nichts weiter als Staub und Asche auf seiner Zunge.
»In Ordnung«, sagte er. Sie öffnete ihm die Tür, und er schlurfte hinaus auf den Korridor.
George wollte nicht zurück in sein Zimmer, also setzte er sich stattdessen auf eine Bank im Gang. Von irgendwoher hörte er Musik und Gelächter, doch die Geräusche schienen ihm endlos weit entfernt zu sein. Er saß einfach da, allein im Dunkeln, an diesem seltsamen und beängstigenden Ort, und fragte sich, ob er sich diesen Moment auf dem Tanzboden nur eingebildet hatte, den Moment, in dem er das Gefühl gehabt hatte, sie hätten eine perfekte Einheit gebildet.
»Ich kenne dich«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Erschrocken fuhr er hoch, drehte sich um und sah Franny in ihrem Nachthemd neben der Bank stehen. »Franny?«, keuchte er. »Warum bist du auf?«
Sie legte den Kopf schief. Ihre Augen strahlten beängstigend. »Wie hast du mich genannt?«, fragte sie.
»Was? Wovon sprichst du? Meinst du deinen Namen?«
»Ja.«
»Tja, der lautet Franny.« George musterte sie stirnrunzelnd. Franny verhielt sich immer merkwürdig, aber dieses Mal war es anders. Ihre Augen wanderten nicht ständig umher, und ihre Stimme hatte die zittrige Verträumtheit verloren.
»Franny …«, wiederholte sie leise. »Ist das wahr?«
»Was ist los? Warum bist du auf?«
»Du bist sein Sohn, nicht wahr?«, fragte sie. »Der kleine Junge, der gekommen ist, weil er ihn gesucht hat. Daran erinnere ich mich.«
»Na ja … ich erinnere mich auch daran, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Mir geht es gut«, sagte sie. »Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit geht es mir gut.« Sie starrte in den mächtigen, finsteren Gang. »Das ist wirklich seltsam. So lange dachte ich, ich würde träumen und die reale Welt um mich herum wäre nur eine Illusion. Aber jetzt, da ich hier bin, an diesem traumverlorenen Ort, scheint alles realer denn je zu sein.«
»Also geht es dir besser?«
»Besser? Nein. Nein, ich weiß nicht, ob ich besser sagen würde. Aber ich fühle ausnahmsweise.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wichtig. Geh wieder ins Bett, Junge. Geh zurück, und am Morgen ist alles wieder gut.« Dann machte sie kehrt und tappte den Gang hinunter. Sie hatte sogar ihren verrückten, schwankenden Gang abgelegt.
Er dachte daran, auf ihren Rat zu hören, aber ihr Verhalten war so merkwürdig, er konnte nicht anders, er musste ihr folgen. Als er die Treppe erreichte, blieb er stehen und lauschte ihren Schritten, während sie die Stufen hinunterstieg. Er folgte ihr, und nach etlichen Abzweigungen und Korridoren und einem weiteren Treppenhaus erkannte George, dass sie auf die Festgeräusche zuhielt.
Sie ging zu der Tür, durch die er vor einiger Zeit in den Speisesaal geschaut hatte. Franny trat ein, und George wartete, ehe er hinterherschlich und hineinlugte. Der Saal war in dem gleichen Zustand wie zuvor: Jede Servierplatte war geplündert worden, Weingläser waren umgekippt, und die große Bowlenschüssel in der Mitte des Tisches war gesprungen. Purpurne, zähe Flüssigkeit troff aus dem Sprung in der Schüssel. Elfen lümmelten sich auf den Stühlen oder lagen bewusstlos oder schlafend am Boden und stöhnten und murmelten im Schlaf, doch selbst in diesem derangierten Zustand sahen sie noch makellos und anmutig aus.
Nur wenige der Feiernden waren noch wach: Die Dame und ihr Gefolge. Sie fläzten sich alle auf ihren Stühlen und musterten die einsame Gestalt, die vor ihnen stand.
»… könnte ich von dir wollen?«, erkundigte sich die Dame gerade.
»Silenus«, sagte Franny. »Ich kann ihn Euch ausliefern.«
»Ihn mir ausliefern?«, fragte die Dame und legte den Kopf auf die Seite. »So sonderbar sich das anhört und so sehr es mir gefiele, fürchte ich doch, dass das unmöglich ist. Weder mir noch meinen Repräsentanten ist es gestattet, Silenus ein Leid zuzufügen. Hast du nicht gehört, welche Vereinbarung wir getroffen haben?«
»Ich habe es gehört«, versicherte Franny. »Ihr habt versprochen, ihm nie ein Leid zu tun, um Vergeltung für das zu üben, was mit Eurer Mutter geschah. Aber Ihr würdet ihm nicht um Euretwegen ein Leid antun.«
»Nicht?«
»Nein. Ihr tätet es um meinetwillen.«
»Deinetwillen? Warum willst
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