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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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Dame. »Ihn verwunden, bestrafen, alles zu deinem Vorteil. Hat er das nicht verdient? Du musst nur ein Wort sagen, und ich kann das mit einem Fingerschnipsen erledigen.«
    »Nein«, sagte George. »So etwas würde ich … ich würde das nie wollen. Hört auf. Hört auf und lasst mich in Ruhe.«
    Die Dame seufzte enttäuscht und richtete sich wieder auf. »Nun gut, wenn du so überzeugt bist.« Dann lachte sie unbekümmert und rief: »Kommt, Kinder! Lasst uns weitergehen.«
    Colette kehrte an Georges Seite zurück und war offensichtlich ebenso erschüttert wie er; sie starrte ihre Handrücken an und zitterte manchmal, als würde sie frieren.
    »Was haben sie zu dir gesagt?«, flüsterte er.
    »Nichts!«, gab Colette erbittert zurück. »Sei still.« Doch unterwegs schloss sie wieder und wieder die Augen, als wünschte sie sich, sie wäre blind.
    Als sie in den Salon zurückkehrten, saß Silenus in Verhandlungen vertieft mit dem Seneschall vor den Erkerfenstern. »Sind wir zu einer Lösung gekommen?«, fragte die Dame und schritt hinüber zu ihnen. Der Seneschall fuhr hoch, und die Dame knickte beinahe auf die Hälfte herab, um sein Flüstern zu verstehen. »Ah«, sagte sie. »Es geht dir also um Vervielfältigung. Ablenkung, wie du es ausdrückst. Das ist kein Problem.« Sie richtete sich wieder auf. »Nun, ein Golbot dürfte genügen, nicht wahr? Ich bin erstaunt, dass bisher keiner von euch daran gedacht hat.«
    »Ich weiß nicht, was das ist«, sagte Silenus verlegen.
    Die Dame lachte. »Komm mit hinaus auf die Veranda. Das wird eine ganz einfache Sache, aber auch eine recht schmutzige.«
    Das Gefolge der Dame und die Truppe gingen durch die Glastür hinaus. Die hintere Veranda war sogar noch größer als die vor dem Haus. Jenseits der Veranda lag der dunkle, knarzende Wald, den sie passiert hatten; offenbar umgab er das Haus, und doch konnten sie an manchen Stellen die schmalen, spitzen Zähne von Flammen erkennen, die überall dort, wo die zahlreichen Scheiterhaufen brannten, durch die Bäume schimmerten.
    Die Dame wies die Truppe an, einige Dinge aus dem Wald zu holen: Jeder sollte einen Korb mit Flusslehm holen, außerdem ein Geflecht aus Eschenzweigen, mehrere Glyzinienlianen, Kieselsteine, Föhrenzapfen, Stroh und so weiter. Jedem von ihnen wies sie einen Gehilfen zur Unterstützung zu, sodass die Arbeit rasch erledigt war. Als sie alles hatten, sagte sie: »Nun muss jeder von euch sich selbst aus dem formen, was ihr mitgebracht habt. Oder, genauer, jeder muss das formen, was er zu sein glaubt .«
    »Kann das nicht einer Eurer Diener für uns tun?«, fragte Silenus.
    »Nein«, sagte sie. »Es muss von den Betreffenden selbst erledigt werden. Ein Golbot besteht wie jede Art von Kunst vorwiegend aus Andeutungen und Mutmaßungen – der Schöpfer deutet etwas an, das Publikum mutmaßt und füllt die Lücken aus. Es ist spontan, manipulativ, fragil und sehr, sehr raffiniert, eine halbfertige Leinwand, die der Betrachter vollenden soll – aber sie muss aus dem Selbstbild entstehen, nicht aus irgendetwas anderem.«
    Grummelnd machten sich die Angehörigen der Truppe an die Arbeit und versuchten, aus dem primitiven Material Kopien ihrer selbst anzufertigen. Vielleicht lag es an der angenehmen Beschaffenheit des Materials, doch zu ihrer Überraschung war es gar nicht so schwer. George, der noch nie irgendeine Begabung für die bildende Kunst gezeigt hatte, hatte bald einen Rahmen aus Eschenzweigen und Glyzinienlianen vor sich stehen. Dieses staksige Gerüst bedeckte er schichtweise mit Laub und Lehm, und den Kopf formte er aus einem Beutel voller Stroh. Allerdings wusste er nicht, wie er das Gesicht darstellen sollte. Er dachte gerade darüber nach, als die Dame an ihm vorüberging. »Sei ehrlich«, empfahl sie leise. Er schauderte in ihrer furchtbaren Gegenwart, doch dann malte er ein Gesicht, das in seinen Augen recht traurig, einsam und verloren aussah, gerade so, wie er sich fühlte. Nicht zum ersten Mal dachte er darüber nach, ob er nicht besser daheim bei seiner Großmutter geblieben wäre, um dem Seufzen der nahen Felder zu lauschen.
    Endlich traten die Angehörigen der Truppe von ihrer Arbeit zurück. Aus einem gewissen Abstand betrachtet, wirkten ihre Schöpfungen arg jämmerlich: schiefe, schmutzige Plastiken mit plumpen Armen und verkrümmten Beinen. Doch dann fiel der flackernde Lichtschein der fernen Feuer über sie, und für einen Moment sahen sie Leute vor sich, die beinahe exakt so aussahen wie sie

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