Silenus: Thriller (German Edition)
anderen gemacht?«
34
WO ALLE LAST FÄLLT
Annie krabbelte durch das Loch, das sie in den Boden des Eisenbahnwaggons gerammt hatte. Eine Weile blieb sie einfach unter dem Gestell liegen und versuchte zu Atem zu kommen. Dann stemmte sie sich auf Hände und Knie und schleppte sich zur Vorderachse.
Sie sah sich um, erfasste die ganze Länge des Waggons. Nie zuvor hatte sie etwas wie das versucht, genau, wie sie Stanley gesagt hatte. Tresore und Metallträger und Statuen, das war einfach. Nichts davon wog mehr als eine halbe Tonne. Aber das hier … das war kolossal. Es anzuheben allein wäre schon ein überwältigender Kraftakt. Zu tun, was Stanley im Sinn hatte, nun … das war schlicht undenkbar.
Sie blinzelte, und plötzlich wusste sie nicht mehr so recht, warum sie eigentlich unter diesem Waggon saß. Es war schrecklich kalt, und ihr fiel auf, dass ihr Körper an vielen Stellen schmerzte … Das kam ihr nicht richtig vor. Wo war ihr Mantel, wo all die Schals und Tücher? Was war mit ihr geschehen?
Dann erinnerte sie sich. »Nein! Nein!«, schrie sie und schlug sich seitlich an den Kopf. »Erinnere dich. Erinnere dich, verdammt! Anne Sillenes … Mein … mein Name ist Anne Sillenes.«
Sie musste, so erinnerte sie sich, dieses Ding hochheben. Oder es wenigstens versuchen. Trotz ihres schlimmen Zustands, trotz der Tatsache, dass jedes Gelenk und jeder Knochen in ihrem Körper rebellierten, musste sie es versuchen.
Sie setzte sich auf, positionierte sich so, dass die Achse des Waggons auf ihren Schultern lag, hob die Arme und umfasste sie zu beiden Seiten. Dann korrigierte sie ihre Fußhaltung, versuchte, sich ins Gleichgewicht zu bringen, und begann zu drücken.
Sie ächzte, und ihre Knie zitterten heftig. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Irgendwo in dem Waggon erklang ein leises Ächzen, der Protest widerwilligen Metalls, das sich anstrengen musste, um die Last zu tragen, die ihm auferlegt wurde, aber zwischen den Wagenrädern und dem Boden zeigte sich kein Lichtlein, der Waggon hob nicht um einen Zoll vom Boden ab.
Keuchend brach sie zusammen. »Verdammt«, schimpfte sie weinend. »Verdammt noch mal! Ich kann es nicht. Ich habe ihm gesagt, ich kann das nicht, und ich kann es nicht.«
In diesem Augenblick drohte die Verzweiflung sie zu überwältigen. Sie hatte die verraten, die sie liebte, und nun war sie außerstande, irgendetwas für sie zu tun. Und während sie dort auf dem kalten, steinigen Boden hockte, sah sie sich um und überlegte, warum sie weinte. Sie schien keine Angst zu empfinden. Vielleicht, dachte sie, als sie die Wunden an ihren Armen betastete, lag es daran, dass sie Schmerzen hatte …
Dann hörte sie es: Die Klänge der Ersten Weise hallten vom Hügel zu ihr herab. Die Luft selbst war angefüllt mit all diesen schwachen, überirdischen Stimmen, doch gleich darauf schloss sich tausendfaches Heulen und Knurren an. Es hörte sich an, als führe die Weise die Wölfe gen Westen, die Hänge hinab und in das Tal vor dem Damm.
Da erinnerte sie sich wieder. »Oh Gott, er hat angefangen. Er hat angefangen .«
Traurig blickte sie zu dem Waggon auf. Dann schüttelte sie sich. Das zu vollbringen, würde sie vernichten, das erkannte sie jetzt. Die Symbole, die auf ihre Haut tätowiert waren, konnten ihren Körper unter solch einem Druck nicht länger erhalten. Und doch lag in dieser Erkenntnis ein Gefühl von Freiheit. In gewisser Weise war jede Sekunde ihrer Existenz ihre letzte gewesen, und alle hatten sie zu dieser letzten Darbietung geführt. Sie würde die Momente, die ihr noch blieben, nicht nutzlos und verzagt verstreichen lassen, beschloss sie; sie musste nur aufstehen und ein bisschen mehr Gewicht als sonst mit sich herumschleppen.
Und vielleicht würde sie im Augenblick ihres Sterbens wenigstens wissen, wer sie war und wer sie einmal gewesen war.
Sie starrte ihre verletzten Hände an. Mein Name ist Anne Sillenes. Anne Marie Sillenes.
Wieder baute sie sich unter der Achse auf, ergriff sie mit beiden Händen und stemmte sich hoch. Dieses Mal überanstrengte sie sich nicht. Stattdessen wandte sie eine gleichmäßig zunehmende Kraft auf. Sie fühlte, wie Knochen und Gelenke überall in ihrem Körper zu krachen begannen, wie Wirbel splitterten und Muskelwände rissen, doch sie drückte nur fester und fester.
Ein durchschnittlicher Eisenbahnwaggon, wie es dieser war, wiegt beinahe siebzig Tonnen. Das Untergestell ist ungefähr achtzig Fuß lang und solide aus dem
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