Silenus: Thriller (German Edition)
aufhören und die Pflicht an einen anderen weiterreichen. Er könnte aufhören, sagte er zu dem Mädchen, und sich gestatten, mit ihr alt zu werden, denn er hatte besondere Vorsorge dafür getroffen, dass er im Altern wirklich sehr schlecht war, und das Mädchen hatte gelächelt. Wenn das wahr wäre, warum sollte er dann so etwas Dummes wollen wie alt werden, hatte sie gefragt, und er hatte gesagt, dass, solange sie bei ihm war, jeder Augenblick perfekt sei, und gegen einen einzigen perfekten Augenblick seien Jahrhunderte und Jahrtausende nicht mehr als eine Fliege, die an die Fensterscheibe prallt. Dann hatte er ihren Hals geküsst, diese helle, weiche Stelle gleich unter dem Kiefergelenk, und das Mädchen hatte gelacht und ihn umarmt, und die ganze Welt war golden und gut, und nie würde eine Wolke an ihrem Himmel aufziehen.
Ich frage mich, was aus dem Mädchen geworden ist, sinnierte sie, während sie den Eisenbahnwaggon den Hügel hinaufschleppte. Ich wette, sie haben bis zum Ende ihrer Tage glücklich zusammengelebt. Ich wette, sie haben zusammengelebt und viele Kinder bekommen. Ich wette, ihr Leben war wie ein immerwährender Sonnenuntergang.
Sie nickte vor sich hin und stemmte den Waggon weiter hinauf.
Ich kenne diese Geschichten. Das ist es, was in diesen Geschichten passiert. Genauso wird es kommen.
Nun würde es nicht mehr lange dauern. Nur noch ein paar Fuß mehr.
Unten im Tal, weit entfernt von dem Hang, auf dem Colette George bergan trug, bahnte sich Stanley geduckt einen Weg durch den Kiefernwald gen Westen und sang dabei leise die Weise vor sich hin, gestattete den Echos, am Ufer entlangzuranken. Die Weise vorzutragen war für Stanley von jeher eine Qual. Es war, als würde ein ganzer Fluss aus seinen Augen und seinem Mund strömen, und es forderte so viel von ihm, sie zu beherrschen. All ihre Teile wollten gesungen werden, wollten in der Welt nachhallen, die sie geschaffen hatten, als Zeit nicht Zeit war, und darum mussten sie in jeder Sekunde eisern gezügelt werden. Ihr Drang, herauszuplatzen, war so enorm, dass er kein Wort sprechen konnte; allein den Mund zu öffnen und irgendein Geräusch von sich zu geben, konnte die Weise veranlassen, herauszuströmen.
Stanley hoffte, dass Colette und George weit genug hinaufgestiegen waren, um nicht mehr in Gefahr zu sein. Er sah sich zu seinen Verfolgern um. Einige waren dunkle, proteische Gestalten, die schwer auszumachen waren, andere kleideten sich in das Abbild von Männern in grauen Anzügen, doch sie alle sprangen den Hang mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Behändigkeit herab. Ihre Anzahl schien endlos zu sein.
Aber das war gut. Er wollte so viele von ihnen anlocken, wie er nur konnte. Alle, wenn möglich.
Die graue Flutwelle von einem Damm erhob sich zu seiner Rechten. Wenn alles gut gegangen war, dann, so dachte er, musste Annie beinahe da sein. Vor dem Damm sprudelte das Wasser hervor und plätscherte über die Felsen, und Stanley suchte nach einer Baumgruppe nahe der Mitte des Damms. Bald hatte er eine vielversprechende Stelle entdeckt. So schnell er konnte, watete er hinüber.
Er suchte sich den größten und kräftigsten Baum aus und ergriff die unteren Äste. Doch gerade, als er das tat, glaubte er, aus dem Augenwinkel jemanden zu sehen … eine Gestalt, grau und undeutlich, die im Wasser stand …
Nein. Nein, so war das nicht. Sie hatte auf dem Wasser gestanden, so, als sei es gefroren gewesen.
Er drehte sich um, um genauer hinzusehen, und für einen winzigen Augenblick hatte Stanley das Gefühl, alles würde stillstehen. Die Winde wehten nicht, das Wasser kräuselte sich nicht. Alles hatte innegehalten. Ein höchst verwirrendes Gefühl.
Dann war der Moment vorüber, und er schaute sich um. Da war niemand. Der Schemen, den er gesehen hatte, war fort. Er schüttelte sich und betastete sein Gesicht. Ihm war, als hätte ihn dort gerade etwas berührt, sehr, sehr sanft …
Dann hörte er die Laute der Wölfe, die den Hügel hinabrannten, und er erinnerte sich wieder, weshalb er gekommen war. Er packte die unteren Äste des Baumes, zog sich hinauf und kletterte noch einige Äste höher. Dann nahm er die Kette, schlang sie um seinen Leib und den Stamm, zog sie stramm und sicherte sie. Dabei hielt er den Blick abgewandt von der Woge der Finsternis, die die Hänge herabrollte und ihn umzingelte. Mit beiden Händen klammerte er sich an den Stamm und hoffte, dass Colette und George weit, weit weg waren.
Als die Finsternis sich erneut
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