Silenus: Thriller (German Edition)
entwickelt. So etwas kann man nicht verbergen.«
Er sah sie an und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Vielleicht lag es daran, wie sie ihn anschaute: den Kopf zur Seite geneigt, ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, eine Haltung, die ihm von seiner Großmutter so vertraut war. Und von sich selbst. »Es tut mir leid, Mama.«
»Was tut dir leid?«
»Ich weiß nicht. Alles. Alles ist danebengegangen. Es kommt mir vor, als hätte ich gar nichts getan, und wenn ich doch mal etwas getan habe, dann hat es nur noch mehr Leid verursacht.«
Sie streichelte seine Wange. Obwohl sie nur ein Echo war, fühlten sich ihre Finger warm und real an. »Nicht weinen«, beruhigte sie ihn sanft.
»Hasst du mich?«, fragte er.
»Dich hassen? Warum sollte ich dich hassen?«
»Ich habe dich umgebracht. Als du mich zur Welt gebracht hast, bist du gestorben.«
»Du hast mich nicht umgebracht«, sagte sie. »Ich habe gelebt, ich habe geliebt, und ich habe einen Sohn geboren. Was passiert ist, ist passiert, und ich bedauere nichts. Ich bin stolz auf dich, George.«
»Oh«, machte George und wischte sich die Augen ab. »Ich dachte, du würdest mich hassen. Ich dachte, es wäre meine Schuld. Ich weiß nicht, warum. Das war dumm.« Er schniefte wieder, und sie nahm ihn in die Arme. Soweit er wusste, hatte seine Mutter ihn nie zuvor in den Armen gehalten, und er wünschte, dieser Augenblick würde niemals enden. »Was passiert jetzt, Mama? Kommt jetzt alles wieder in Ordnung?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Nein.«
»Nein? Warum nicht?«
» Warum ist nicht die Frage«, sagte sie. »Was geschehen soll, wird geschehen. Und ihr alle werdet damit zurechtkommen müssen, mein Liebling. Du ebenso wie dein Vater. Aber nichts könnte mich mit mehr Stolz auf zwei Menschen erfüllen als das, was ihr beide tun werdet.«
»Du weißt, was wir tun werden?«, fragte er.
»Ja. Alles, was geschehen ist und geschehen wird, ist in der Weise enthalten, George. Von hier kann ich sehen, was vor uns liegt und wann alles enden wird.«
»Enden?«, wiederholte George. »Wie wird es enden?«
»Es wird jetzt nicht mehr lange dauern. Ich kann es dir zeigen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Möchtest du das?«
Er nickte.
»Schließ deine Augen, Kind.«
Und als er es tat, fühlte er ihre Lippen und ihren Atem ganz nah an seinem Ohr, und ihre Stimme sagte: »Jetzt musst du nur noch aufwachen …«
Und das tat er.
33
EIN MANN, DER SEHR SCHLECHT
IM STERBEN WAR
Weit, weit entfernt von dem Damm in einer vergessenen Ecke der Wirklichkeit, die gänzlich unzugänglich war, sofern sie sich nicht zugänglich zeigen wollte, lümmelten sich Ofelia und der Rest ihres Elfenvolks, von Speis und Trank wie erschlagen, auf den Sitzmöbeln ihres Bankettsaals. Wie gewöhnlich schliefen schon viele der Elfen. Und dabei fiel es ihnen heutzutage schwer, Schlaf zu finden, wenn ihre Erwartungen nicht durch den Geschmack des Außergewöhnlichen zufriedengestellt wurden.
Es war, so dachte Ofelia, ein recht gutes Essen gewesen. Aber während sie sich die Zähne mit einem kleinen Zahnstocher aus Elfenbein reinigte, stellte sie fest, dass sie nicht vollends befriedigt war. Ihr wurde bewusst, dass sie seit Jahren gedacht hatte, sie würde nie ganz zufrieden sein, solange sie nicht diesen letzten Punkt auf ihrer Liste abgehakt hätte, doch eine der Gefahren einer solchen Denkweise ist es, dass das Ereignis, auf das sich all die Hoffnungen richten, niemals ganz den Erwartungen entsprechen kann.
Sie ließ ihren Zorn an ihrem Seneschall aus und forderte ihn auf, ihr zu sagen, was er von dem Mahl hielt. Er stimmte zu, dass, ja, Mylady, die Zubereitungsmethode des Kochs wahrlich raffiniert gewesen sei, seine Idee, das Fleisch in Wein und Tabak ziehen zu lassen, nachdem es zweifellos von beidem bereits im Leben reichlich gekostet hatte. Und, ja, Mylady, es mit einem abgelagerten Arkadier zu reichen war nichts weniger als ein önophiler Triumph. Und, nein, Mylady, Uisce beatha hatte nicht den kleinsten Katzenjammer zurückgelassen, der das Ereignis hätte beeinträchtigen können. »Wiewohl ich zugeben muss, Mylady«, gestand er ein, »dass ich momentan eine geringfügige Reizung meines Magens wahrnehme, doch das hat gerade erst angefangen.«
»Das ist merkwürdig«, sagte sie. »Ich glaube, ich empfinde möglicherweise das gleiche Unwohlsein. Vielleicht hat der Koch zu kräftig gewürzt. Er hat es schon früher übertrieben, wenn man ihn zu sehr bedrängt hat.«
Der
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