Silenus: Thriller (German Edition)
Schöpfung neu zu singen. Er bringt alles dorthin zurück, wo es war; er singt von Licht in den Schatten und dann von Bergen und Ozeanen und vielen Seen und dem wolkengetüpfelten Himmel und der sengenden Sonne. Er singt von Jahren der Geschichte, alle exakt so, wie sie einst gewesen; er singt von jeder Position jedes Partikels, jedem Kräuseln und jedem Tropfen Wasser. Und als das vollbracht ist, singt er von den Milliarden von Leben, die einst über das Antlitz der Erde gekrochen, gelaufen oder geflogen sind, vom kleinsten Floh bis hin zum ältesten und weisesten Menschen, Jahrhunderte um Jahrhunderte der Geschichte, wiederaufgebaut von Augenblick zu Augenblick.
Er holt sie alle zurück, jeden einzelnen. Die Wölfe, die Zeuge werden, sind verwirrt. Wenn er alles zurückholt, so fragen sie, warum hat er es dann erst niedergerissen? Doch der große Wolf im Hintergrund ist nicht überzeugt, dass er das tut; der Junge verändert die Weise beständig, während er sie singt. Gibt es da einen raffinierten Unterschied zwischen dieser Welt und der letzten? Der Wolf versucht, das ungute Gefühl abzuschütteln, der Junge würde die Schöpfung um sie herum errichten, würde sie einpferchen …
Bald ist die Welt wieder beinahe so, wie sie war, als der Junge sie zerstört hat. Er hat die Zeit bis zu seinem eigenen Leben, seiner eigenen Geschichte wieder hergestellt, fast bis zu den Ereignissen, die ihn zu dem Punkt geführt haben, an dem er nun steht. Und hier hört er auf.
Zum ersten Mal ist er unsicher. Er weiß, was er zu sehen bekommen wird. Aber er weiß nicht recht, was er tun wird.
Er blinzelt, und plötzlich steht er auf dem Wasser eines breiten, dunklen Flusses. Hinter ihm ist eine mächtige Betonwand, die den Fluss staut. Und wenn er auch die Augen schließt, weiß der Junge doch, was aus dem schwarzen Dunst vor ihm auftauchen wird: eine kleine Insel, und auf dieser Insel sind viele große Bäume, und unter einem der größten Bäume steht ein Mann.
Der Mann ist groß und hager, und sein Haar ist leuchtend wasserstoffblond. Obgleich er mit Schlamm beschmutzt ist, ist er tadellos gekleidet. Er hat einen der unteren Äste des Baums ergriffen, als wolle er hinaufklettern, hat sich aber abgewandt und starrt über den Fluss zu dem Jungen hinüber. Doch er sieht ihn nicht; die Zeit funktioniert nicht an diesem Ort, noch nicht, und darum kann der Mann nichts sehen. Es ist, als wäre er eine Statue.
Der Junge öffnet die Augen und schaut den Mann an, und jeglicher Atem verlässt seinen Körper. Der Junge hat so viel Geschichte aus dem Stegreif wieder aufgebaut, und doch ist dieses eine Ereignis, so unbedeutend es gegenüber all dem anderen, was er geschaffen hat, auch sein mag, das Körnchen Sand inmitten des wundersamen Bauwerks seiner Schöpfung. Der bloße Anblick dieses Mannes verletzt den Jungen an einer tief verborgenen Stelle seiner selbst, und doch ist er nicht nur schmerzhaft. In gewisser Weise erfreut es den Jungen, diese trübe, blasse, bange Gestalt zu sehen. Ihm ist, als hätte er das schon früher getan. Immerhin hat dieser Mann, als er ihn das letzte Mal heil und unverletzt gesehen hatte, unter einem Baum gestanden, und da hatte ihn der Mann auch nicht gesehen oder zu ihm gesprochen …
Der Junge zögert, winkt dem Mann zu. Dann lässt er die Hand sinken und sagt: »Du kannst mich nicht sehen, das weiß ich. Es war dumm von mir zu winken, aber … ich dachte, ich sollte es trotzdem tun.«
Seine Lippen zittern. Er weiß, wenn er jetzt nicht sagt, was er zu sagen wünscht, wird er es nie tun. Also geht er über das Wasser zu dem Mann und fragt: »Warum hast du es mir nicht erzählt? Warum hast du mir nicht gesagt, wer du bist?«
Natürlich antwortet der Mann nicht; er starrt einfach nur geradeaus, so starr und steif wie der Rest der Welt.
»Ich wünschte, du hättest es mir gesagt«, sagt der Junge. »Ich weiß, warum du es nicht getan hast, aber … ich wünschte trotzdem, du hättest.«
Dem Jungen fällt auf, dass er sehr hastig atmet. Er blickt zu dem Baum hinauf, und Tränen treten in seine Augen. »Ich weiß, was passieren wird«, sagt er zu dem Mann. »Ich weiß, was passieren wird, wenn du auf diesen Baum kletterst. Du wirst dich an ihm festketten, und Annie wird den Damm zerstören, und dann, dann …«
Nun kann er sich nicht mehr beherrschen. Der Junge fängt an zu weinen. Der Mann starrt nur stur geradeaus. Er ahnt nichts von den Tränen. In gewisser Weise ist der Junge der einzige
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