Silenus: Thriller (German Edition)
Mensch auf der ganzen Welt, doch so einsam er schon damit sein mag, fühlt er sich doch noch viel einsamer.
»Du musst das nicht tun!«, schreit der Junge den Mann an. »Du musst nicht auf diesen Baum klettern! Der Damm muss nicht brechen! Ich könnte … ich könnte mit den Fingern schnipsen, und nichts von alldem müsste geschehen! Wir könnten … wieder im Theater sein, in deiner Garderobe, und ich könnte dir beim Üben zuschauen. Du hast Claudio Merulo gespielt, daran erinnere ich mich. Das war so schön, Vater. Du hast so gut gespielt.
Wir könnten auch woanders sein«, sagt der Junge zu der starren Gestalt. »Ich könnte uns ein Heim schaffen. Irgendwo, wo es Bäume gibt. Wir könnten gemeinsam spazieren gehen. Und du könntest reden. Du könntest mit mir reden. Du müsstest nicht mehr alles aufschreiben! Hörst du mich? Du müsstest es nicht mehr aufschreiben! Würde dir das gefallen? Ich könnte das für dich tun! Mit einem einzigen Wink könnte ich das tun!«
Aber der Mann antwortet nicht. Er starrt nur über das Wasser, das Gesicht erstarrt in einem Ausdruck von Interesse und Sorge. Und doch spiegeln seine Züge Frieden wider. Dies ist das Gesicht eines Mannes, der genau weiß, was er tut, und es bereitwillig wieder tun würde.
Der Junge sieht dem Mann in die Augen. Tränen rinnen über seine Wangen, und er schnieft. »Aber das werden wir nicht bekommen, nicht wahr?«, fragt er ihn. »Wir bekommen diese Augenblicke nicht. Es wäre nicht richtig, die Welt zu etwas zu machen, das sie nicht ist, nur weil wir sie so haben wollen.« Er blickt auf seine Hand hinab und auf die zertrümmerte Uhr, die in ihr ruht. »Es wäre nicht richtig. Und es wäre nicht real.«
Wieder schaut er den erstarrten Mann an. Dann nickt der Junge. »Was geschehen soll, wird geschehen. Ich … ich bin froh über das, was wir hatten. Und es tut mir leid, dass ich gemein zu dir war. Aber das weißt du, nicht wahr?«
Der Junge tritt vor und packt den starren Mann an den Schultern. Dann, auf den Zehenspitzen stehend, denn der Mann ist groß und der Junge klein, drückt er dem Mann einen Kuss auf die Wange und flüstert ihm ins Ohr: »Wir sehen uns bald. Warte einfach. Ich war schon einmal dort. Und du auch.«
Dann tritt er zurück und nickt, und die Bäume und die Insel und der Mann verschmelzen mit der Finsternis, und der Augenblick ist vorüber.
Die Welt wird bleiben, wie sie war. Und außerdem kann der Junge nicht mehr zurück. Selbst wenn er ein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen geschaffen hätte, wenn er von eigener Hand eine glanzvolle Geschichte seiner selbst in das Antlitz der Welt geprägt hätte, würde ihm das keine Freude bereiten, denn er kann nicht vergessen, was er gesehen hat. Anders als all die anderen Bewohner dieser Welt hat er nun all die verborgenen Wahrheiten gesehen, all die dunklen Ecken.
Alle bis auf eine. Und als der Junge die letzten Änderungen an seiner Schöpfung vornimmt und ihm die Erste Weise durch die Finger gleitet, als er jede einzelne Note und jede Stimme aufzehrt, fragt er sich allmählich … irrt er, oder kann er eine Struktur in der Weise sehen? Führt eine unsichtbare Hand durch all die Melodien und Harmonien, die nicht die seine ist? Wer hat diese Weise ursprünglich gesungen? Wurde sie je gesungen, oder war sie schon immer ein Echo in der Tiefe?
Er weiß, dass die Wölfe ein Zufallspublikum sind. Für wen also singt er? Für sich selbst? Oder für etwas Größeres? Verbirgt sich ein Gesicht hinter all den Millionen Noten dieser Weise, und blickt es ihn an und lächelt es?
Kaum aber sinniert er über diese Fragen, da begreift er, dass er die Antworten nie kennen wird. Er hat so viel von der Weise, doch ein paar Noten fehlen, und ein oder zwei entscheidende Stimmen. Diese Lücken, so klein sie auch sein mögen, bringen das Ganze durcheinander, und er weiß nicht recht, ob er in all dem, was er singt, einen Plan erkennen kann.
Vielleicht ist das nicht das erste Mal. Vielleicht hat es neben ihm selbst noch andere Schöpfer gegeben, die alle über diese nachhallende Weise gestolpert waren und die Welt neu ersungen haben, als sie von der Finsternis bedroht war. Und jedes Mal ist die Welt wieder mangelhaft. Vielleicht.
Die Wahrheit wird sich ihm ewig entziehen. Und er nickt und ergibt sich dieser Erkenntnis. Was geschehen soll, wird geschehen.
Nun ist er beinahe fertig. Er hat all die Veränderung durchgeführt, die er für möglich hält. Er hat das Tal neu errichtet, jeden
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