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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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Zweig und jeden Baum, und das Mädchen ist da und klammert sich ganz am Rand an einen Ast, und sein Vater liegt wieder zu seinen Füßen. Die Wölfe warten immer noch am Ende des Tals, und der große Wolf ragt über ihnen auf, den Kopf neugierig zur Seite geneigt.
    Der Junge lässt die Zeit noch nicht weiterlaufen. Die Welt verweilt in ihrer Starre. Ihm bleiben nur noch ein paar Noten der Weise, doch er hält sich mit dem Gesang zurück.
    Von dem großen Wolf kommt eine Stimme, die wie das aufgewühlte Herz der Erde klingt. Sie fragt: Und wozu war das gut?
    Der Junge sagt: »Ich habe Dinge geändert.«
    Der Wolf fragt: Wie?
    »Lange Zeit wart ihr der Abgrund«, sagt der Junge. »Wir haben in euch gestarrt, und ihr habt uns Angst gemacht. Ihr habt Stück um Stück die Welt verschlungen. Aber nun habe ich das geändert.«
    Der Kopf des großen Wolfs neigt sich ein wenig mehr zur Seite.
    »Nun wird der Abgrund erfahren, wie es ist, in ihn hineinzusehen«, sagt der Junge. »Denn ich habe all deine Kinder genommen und real gemacht.«
    Der große Wolf blickt hinab und erkennt voller Schrecken, dass sich um seine Füße keine dunklen, wilden Gestalten mehr tummeln, die aussehen wie winzige Versionen seiner selbst. Stattdessen ist er von Männern in grauen Anzügen umgeben, doch sie sind nun keine bloßen Bilder mehr. Sie sind real samt Fleisch und Knochen und Haut. Die Männer in Grau schauen einander an und begreifen, dass sie keine Menschen mehr nachahmen; sie sind Menschen, und jeder von ihnen trägt einen winzigen Schnipsel der Ersten Weise in sich.
    »Ihr seid nun alle am Leben«, sagt der Junge. »Genau wie alle anderen. Und eines Tages werdet ihr sterben, genau wie alle anderen. Ihr werdet von eben dem Schatten verzehrt werden, der ihr einst wart.«
    Ein Aufschrei des Entsetzens erhebt sich unter all den Männern in Grau. Sie heulen, spüren ihre fleischigen Leiber und knirschen mit den allzu realen Zähnen. Zu sein, so brüllen sie, ist der schlimmste aller Albträume, ein unvorstellbares Grauen.
    Der große Wolf wirbelt um die eigene Achse, verwirrt und, zum ersten Mal, seit die Schöpfung getan wurde, verängstigt. Wie war das möglich? Wie konnte der Junge etwas so Elementares verändert haben?
    Er sieht den Jungen an und sagt: Das kannst du nicht tun. Du kannst mich nicht zwingen, meine eigenen Kinder zu verschlingen.
    »Und doch wirst du es müssen«, antwortet der Junge. »Sie sind, also müssen sie vergehen. Vielleicht nicht heute, aber eines Tages. Wie viele unserer Kinder haben wir an dich verloren? Wie viele Väter, wie viele Mütter? Wie viele würden wir verlieren, bekämest du, was du willst und dürftest die Welt verschlingen?«
    Der Wolf entgegnet: Aber das müssen wir tun. Sie quält uns so. Sie quält uns.
    »Ich weiß«, sagt der Junge. »Es schmerzt, unter der Schöpfung zu sein. So, wie es schmerzt, über der Finsternis zu hängen. Also, was sollen wir nun tun?«
    Der Wolf sieht den Jungen nachdenklich an und fragt: Was willst du?
    »Was jeder will. Zeit.«
    Der Wolf sagt: Die kann ich dir nicht geben.
    »Dann wirst du deine Kinder verlieren und allein sein, mehr noch als je zuvor. Du wirst für immer gebrochen sein und nie mehr heilen.«
    Der Wolf denkt nach. Ihm wird klar, dass er eine Entscheidung treffen muss. Die Finsternis hat noch nie zuvor eine Entscheidung getroffen. Es hat immer nur eines zu tun gegeben, das Licht von oben zu verschlingen. Nie hat es eine Alternative gegeben. Doch nun muss er den ersten Schritt auf diesen fremden Boden tun und sich überlegen, wie er diesen kleinen Jungen in diesem kleinen Tal zufriedenstellen kann.
    Schließlich fragt der große Wolf: Wie viel Zeit?
    Und der Junge sagt es ihm.

37
     
    PATER OMNIPOTENS AETERNA DEUS
     
    Es donnerte, und eine sanfte Brise strich durch das Tal. Colette erschrak und schwankte wie trunken, als sie nach dem Ast des Baumes griff. Dann gab sie auf, ließ sich zu Boden fallen und blieb dort sitzen.
    Sie fühlte sich sehr benommen. Eine Sekunde hatte es sich angefühlt, als würde sich der Boden unter ihren Füßen aufbäumen. Aber das war nicht wirklich geschehen, so beschloss sie. Für einen Moment war alles ins Stottern gekommen, so wie es war, wenn Harry und Stanley die Erste Weise vortrugen, aber … dieser Zwischenraum, in dem alles fort gewesen war, hatte so viel länger gedauert, oder nicht? Es hatte sich angefühlt, als wären so viele Sekunden und Jahre plötzlich einfach verloren gewesen.
    Etwas hatte sich

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