Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
Vom Netzwerk:
wie George begeistert erkannte, das juwelengeschmückte Mädchen in Weiß. Die Maske hatte es abgelegt, und er sah, dass sein Gesicht glatt und kantig war, die Augen von einem eigenartigen Grün. Sie lächelte, als sie auf Silenus zuging, und er ergriff ihre Hand und gab ihr einen Handkuss.
    Der andere Künstler war ein sehr großer, hagerer und gut gekleideter Mann mit hellblondem Haar. Er trug ein Cello samt Bogen in einer Hand, einen einfachen Stuhl in der anderen. Er war ein wenig gebeugt, so, als hätte er kürzlich eine schwere Last getragen und sich überanstrengt, und er ging etwas ruckartig, da sich seine rechte Hüfte bei jedem Schritt ein- und wieder ausdrehte. Er stellte den Stuhl ab, zog den Stachel aus dem Cello und setzte sich. Dann nahm er Spielhaltung ein und zog den Bogen sacht über jede Saite, um den Klang zu prüfen und das Instrument zu stimmen.
    Doch dann tat der Mann etwas, das George seltsam vorkam: Der Cellist runzelte die Stirn, als hätte er etwas Merkwürdiges gehört, und blickte auf, um die Ursache zu ergründen. Seine Augen wanderten über die Menge, streiften Balkone und die Sitzplätze direkt vor der Bühne, bis sie schließlich genau den Bereich herauspickten, in dem George saß, und sogar bei seinem Platz zu verweilen schienen. George hatte das Gefühl, der Mann würde, obwohl ihm die Bühnenbeleuchtung direkt ins Gesicht strahlte und er gegenüber dem Rest des Theaters ohne Zweifel blind sein musste, nach ihm Ausschau halten und ihn tatsächlich sehen.
    »Das Stück, das wir heute Abend spielen«, sagte Silenus, »haben wir selbst kreiert. Oder besser, instrumentiert. Die Melodie ist viel, viel älter als alles, was Sie heute Abend gehört haben, eine uralte Volksweise, die, in der einen oder anderen Version, von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Soweit ich weiß, hat sie keinen Namen. Wir nennen sie, wenn Sie gestatten, ganz einfach den Choral. Sein Alter legt zweifellos Zeugnis über seine Güte ab, und wenn wir ihn gut genug spielen, so werden Sie mir zustimmen.«
    Er drehte sich zu den beiden Künstlern um und hob die Hände. Der Mann mit dem Cello wandte den Blick von George ab und nahm Haltung an. Das Mädchen in Weiß drückte die Schultern durch und bereitete sich darauf vor zu singen. Eine kurze Pause trat ein, dann ließ Silenus die Hände sinken.
    Der Cellist stürzte sich in das Präludium des Stücks. Sein Spiel war perfekt synchron mit Silenus’ Dirigat, und seine Augen verfolgten jede Bewegung. Es war ein außergewöhnlich anspruchsvolles und komplexes Stück, und seine linke Hand musste beinahe den ganzen Weg die Saiten hinab bis zum Steg kriechen, um die klaren, sauberen Töne hervorzubringen, die das Stück verlangte. George wusste wenig über Celli, aber in Anbetracht des blitzschnellen Lagewechsels und des rapiden Strichs des Bogens erkannte er sofort, dass er eine überragende Darbietung der Kunstfertigkeit erlebte. Das Stück selbst war schmerzlich, ja, quälend schön und erinnerte George an grüne, sanfte Hügel, die zu schwarzen Klippen führten, welche von der See abgetragen wurden. Es war trostlos und verloren und deutete doch unentwegt eine bevorstehende Ausweichung an, bei der das Stück von Moll zu Dur wechseln würde, von Trauer zu Freude. Derweil aber fühlte es sich zerrissen an, geradezu, als pendele es zwischen einem Klagelied und einer Jubelfeier.
    Dann fing das Mädchen zu singen an. Ihre Stimme klang rauchig und honigsüß, und wie schon zuvor sang sie nicht auf Englisch, doch George konnte nicht erkennen, welche Sprache sie benutzte. Auf keinen Fall hörte es sich wie Französisch an, wie es das vorangegangene Lied getan hatte. Es war schwer, eine Silbe von der anderen zu unterscheiden, und manchmal konnte George nicht verstehen, wie ihr Mund die Laute bilden konnte, die er hörte.
    Er verlor sich in dem Stück, badete in den Trillern und Ornamenten. Aber plötzlich wurde er abgelenkt. Da war ein Geräusch, das sehr leise in dem Theater erklang.
    Nach einer Weile erkannte er, um was es sich handelte: ein anderes Musikstück.
    Er blickte die Gänge entlang, konnte aber niemanden sehen, der pfiff oder vor sich hin summte. Es war ein sehr sanftes Lied, ganz anders als der Choral, und doch fügte es sich ein. Bisweilen erklangen in beiden die gleichen Noten, sodass niemand etwas bemerkte, beinahe so, als würde man Lärm in einem Donnerhall verbergen. Irgendwie hatte George das Gefühl, er hätte dieses zweite Stück schon einmal

Weitere Kostenlose Bücher