Silenus: Thriller (German Edition)
vernommen, aber er wusste nicht wo. Es war zu leise, um es klar zu hören. Und es musste schon sehr, sehr lange her sein.
George studierte den Cellisten und die Sängerin, aber von ihnen schien die zweite Weise nicht zu kommen. Noch während er hinschaute, erkannte er, dass sie sich ein wenig verändert hatten: Ihre Farben schienen leuchtender zu sein als zuvor. Das blonde Haar des Cellisten sah nun grell golden aus, und Silenus erglühte wie eine Flamme. George fragte sich, ob er sich das alles nur einbildete, und er blickte sich im Zuschauerraum um. Er fand niemanden, der irgendwie beunruhigt wirkte. Dann sah er sich die Menschen in seiner direkten Umgebung genauer an.
Keiner von ihnen rührte sich. Sie wirkten katatonisch. Ihre Augen waren geweitet und glasig, bei einigen standen die Münder offen. Sogar die Orchestermusiker waren starr und stierten hinauf zu Silenus und seinen Künstlern.
George drehte sich zu dem Mann neben sich um und flüsterte: »Verzeihen Sie, Sir … hören Sie das auch?«
Aber der Mann antwortete nicht. Wie alle anderen war er gelähmt und starrte blicklos in die Luft über der Bühne.
George stupste ihn an. »Sir? Ist alles in Ordnung? Was ist hier nur los?« Aber weder sein Nachbar noch irgendjemand anderes rührte sich.
Das zweite Stück, das verborgene Stück, schien lauter zu werden, und George fühlte ein Prickeln auf seiner Haut. Er musterte seinen Handrücken und sah, dass sich die Haare dort aufgerichtet hatten. Er betrachtete die Leute um sich herum. Die verirrten Strähnen der Damen vor ihm stellten sich gerade auf, und über den Ohren eines fast kahlköpfigen Mannes neben ihnen prangte ein kleiner, steifer Wald, aber sie alle waren viel zu gebannt, um etwas davon zu bemerken. Ein Summen wie von einer unsichtbaren Energie erfüllte die Luft, während das zweite Stück immer lauter wurde, und George erkannte irgendwie, dass auf einer Ebene, die er nicht sehen konnte, etwas vor sich ging: Es war, als wären irgendwo im Theater zwei getrennte und sehr ferne Kräfte durch eine Art Nabelschnur verbunden worden, um sich zu küssen wie Planeten, die einander in ihren jeweiligen Umlaufbahnen streifen.
George wusste nicht recht, warum er als Einziger nicht von dem Stück gebannt war, und er wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er aufspringen und rufen? Auf die Bühne stürmen und der Vorstellung ein Ende machen?
»Hallo?«, sagte er und tippte der Dame, die vor ihm saß, auf die Schulter. »Hallo, Ma’am? Ma’am, können Sie … können Sie mir helfen?«
Ein Ächzen rumpelte durch das Theater, doch George konnte es nicht an den Füßen oder am Rücken spüren; es war, als könnte er es nur in seinem Geist hören. Und dann veränderte sich etwas in dem Theater: Es schien, als würde alles – die Bühne, die Vorhänge, die endlosen Sitzreihen – flackern , als wäre alles für einen Augenblick dem Sein entrückt worden, und als es zurückkam, schienen die Schatten und die Übergänge zwischen Hell und Dunkel schärfer und alle Farben blendend grell. Für George fühlte sich das Theater plötzlich seltsam dünn an, substanzlos und unwirklich, als wäre es in Wirklichkeit nur ein Puppentheater und all die Leute und Künstler nur aus Wachspapier geschnittene Figuren, so, als hätte jemand das Dach abgenommen und die ganze Welt von oben hineingeschüttet …
Voller Angst stand George von seinem Platz auf, entschlossen, die Flucht zu ergreifen. Er würde über die Knie der Leute in seiner Sitzreihe hinwegstolpern müssen, dachte er. Aber er konnte nicht einfach alle anderen hier darauf warten lassen, was als Nächstes passieren würde. Er bückte sich und schüttelte den Mann auf dem Nebensitz. »Sir? Sir! Um Gottes willen, Sie müssen aufstehen! Sie müssen auf-«
George verstummte. Nun waren in dem zweiten Stück Stimmen zu hören, hoch und süß, doch er konnte keine neu dazugekommenen Sängerinnen im Theater sehen. Aber jetzt erkannte er die Melodie, die sie sangen. Er hatte sie tatsächlich schon einmal gehört.
Und dann erinnerte er sich.
Fragmente alter Erinnerungen fluteten durch sein Bewusstsein. Er sah ein Feld, gesäumt von tiefen, schluchtartigen Senken, vor einem kleinen Wäldchen. Gesichter aus Wurzeln schienen am Rande der Schluchten auf Stöcke gepfählt, und sie alle waren einem Hügel in der Mitte des Waldes zugewandt, als würden sie auf etwas warten. Als er ihrem Blick folgte, sah er ein Hügelgrab, nass und still. Graues Sonnenlicht troff in das
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