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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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drückend nah und schwer an. Und wenn er sich nicht irrte, dann hatte sich auch an den anderen Zuschauern etwas verändert: Sie schienen mehr Farbe an sich zu haben, ob es nun das tiefe Grau der Hose eines Mannes war oder das satte Marineblau eines Damentäschchens. Es war, als hätte das Lied ein Licht in ihnen entzündet, eines, das dafür sorgte, dass ihre Haut und ihre Kleidung viel heller erstrahlten als zuvor.
    »Es ist ein schöner Abend«, sagte eine Dame mit einem riesigen weißen Hut. »Ein einfach schöner Abend.«
    »Ja«, stimmte ein Mann zu. »Gewiss. Wie damals, als ich noch ein Kind war.«
    »Das ist es«, sagte die Frau. »Das trifft es exakt. Es ist wie ein Weihnachtsabend aus meiner Mädchenzeit.«
    Lächelnd liefen sie herum, als würden sie schlafwandeln. George fragte sich, ob es allen so erging. Es schien ihm, als wären sie hypnotisiert worden, aber er glaubte nicht, dass die Tricks eines Hypnotiseurs die Farben eines Menschen leuchtender erscheinen lassen konnten.
    Doch dann fiel ihm ein, dass die vierte Nummer auch ihn nicht unberührt gelassen hatte: Das Stück hatte ihm eine Erinnerung aufgeschlossen, doch die fühlte sich gänzlich fremd an. Sein Kopf lief immer noch über von den vereinzelten Bildern von Hügelgräbern, Wurzelgesichtern, schlingerndem Licht in der Dunkelheit sowie den flüchtigen Eindrücken von Sommertagen, grünen Blättern und einer geheimen Ecke der Welt, die nur er finden konnte. Ihm war, als wäre er einmal ein vollkommen anderer Mensch gewesen, und er fühlte sich beinahe so benommen und orientierungslos wie die anderen Zuschauer.
    Aber das Interessanteste an dieser Erinnerung war das Lied. Wenn er sich nicht irrte, hatte er den Silenus-Choral heute Abend nicht zum ersten Mal gehört: Er hatte ihn schon einmal gehört, vor langer Zeit, als er noch ein Kind gewesen war, doch er hatte sich bis jetzt nicht daran erinnert. Er verstand nicht, wie das möglich sein konnte.
    Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass der einzige Mann, der mehr darüber wissen könnte, gerade im Theater seine Sachen packte und sich bereit machte zu gehen. George drehte sich um und hastete durch eine kleine Gasse zur Rückseite des Theaters.
    Zwar war das Pantheon dem Otterman’s weit überlegen, doch der Grundriss war der gleiche. George schlüpfte durch den Lieferanteneingang, über den die Requisiten ihren Weg in das Theater fanden, hinein. Drinnen sah er sich auf den mit Seilen, Flaschenzügen, Vorhängen und Kulissen vollgestopften Gängen um und überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte. Zuerst dachte er, er wäre allein hinter der Bühne, doch dann erkannte er, dass das ein Irrtum war: Zwei Bühnenhelfer standen in einer Ecke, doch sie verhielten sich so still, dass er sie zunächst gar nicht bemerkt hatte. Auf ihren Lippen prangte ein vages, wirres Lächeln, und sie waren offenkundig genauso benommen wie die Zuschauer vor dem Theater.
    Dann hörte George Stimmen auf sich zukommen. Er ging zu einem Vorhang, zog ihn zur Seite und erblickte Silenus, den Cellisten und das Mädchen in Weiß, die in seine Richtung gingen. Sein Herz hätte beinahe ausgesetzt, und er ließ den Vorhang wieder ein wenig sinken und lauschte.
    »Nicht übel, ganz und gar nicht übel, Leute«, sagte Silenus, der voranging. In dem stillen Theater war er leicht zu verstehen. Er hatte die shakespearesche Sprachmelodie abgelegt, die er während der Aufführung benutzt hatte, und sprach nun in einem schleppenden Brummton. »Hätte verdammt viel schlechter sein können, meiner ach so ungefragten Meinung nach. War nicht so gut, wie wir es früher hingekriegt haben, das ist die beschissene Wahrheit, aber es war besser als in der letzten Zeit.« Er paffte an seiner Zigarre und fing an, sich die weiße Theaterschminke aus dem Gesicht zu wischen. »Halleluja, Scheißamen. Herrlichkeit und Gnade und Glück im Überfluss, oder irre ich mich?«
    George wusste nicht recht, was er tun sollte. Dieser Mann schien so anders zu sein als der Künstler, den er vor gerade fünf Minuten erlebt hatte. Sollte er Silenus’ Namen rufen? Vor ihn treten? Dann würde der Mann bestimmt etwas sagen, aber was konnte George dann antworten?
    »Wer bist du?«, fragte eine leise Stimme hinter ihm. Zugleich legte sich eine Hand auf seine Schulter, die ihn, obwohl weich und klein, mit eisenhartem Griff packte.
    George schrie auf und tat vor Schreck einen Satz; sein Koffer prallte auf den Boden, öffnete sich und verteilte seinen

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