Silenus: Thriller (German Edition)
oder das Leiden durchbrechen, das ihn überkommen zu haben schien. Doch als er die Frau erblickte (war das eine Frau?), die auf der Bühne stand, richtete er sich zögernd auf und gab acht, gespannt darauf, was sie zu bieten hatte.
Sie war ein mageres Persönchen mit durchschnittlichem Körperbau und in keiner Weise muskulös und stand in einer nachlässigen Haltung, die weit von der geschickten Zurschaustellung von Silenus und den anderen Künstlern entfernt war, mitten auf der Bühne. Ihr rötliches Haar wirkte ungepflegt, ihr Gesicht war weiß geschminkt, die Lippen rot, ganz ähnlich wie der Professor; aber während das Make-up in seinem Fall das komödiantische Verhalten unterstrichen hatte, betonte es in ihrem nur ihre Reglosigkeit. George glaubte nicht, dass er je irgendjemanden so still hatte dastehen sehen. Wie erstarrt verharrte sie dort, das Gesicht den Kulissen zugewandt, und schien kaum zu atmen. Und dann war da noch ihre Kleidung … Er hatte erwartet, die starke Frau würde so etwas wie Strumpfhosen tragen, doch sie schien sich in stramme, bunte Bandagen gewickelt zu haben, die jeden Zentimeter ihres Körpers unterhalb des Halses bedeckten. In dieser Aufmachung wirkte sie sonderbar geschlechtslos und unecht. Nur ihre Hände waren unverhüllt, und die hingen kraftlos an ihrer Seite. Niemand schien weniger imstande zu sein, meisterhafte Kraftakte vorzuführen, und doch war sie auf der Bühne umgeben von einem ganzen Haufen großer und einschüchternder Requisiten: eiserne Tresore, schmale Stahlträger, Eisenbahnräder, steinerne Statuen und einige Stahlbänder. Verglichen mit ihren Requisiten wirkte die Frau geradezu winzig, doch sie beachtete sie nicht einmal. Tatsächlich schien es, als wäre ihr gar nicht bewusst, dass ihre Nummer bereits lief.
»Tu was!«, rief jemand aus dem Hintergrund, und in der Menge wurde vereinzelt Gelächter laut.
Wie zur Antwort fing das Orchester zu spielen an, und die starke Frau riss den Kopf hoch, um in den Saal hinauszustarren. Die Menge schrak ein wenig zurück. Die Bewegung hatte unnatürlich ausgesehen, so, als wäre ihr Kopf mit einem Faden hochgezogen worden, und plötzlich verstand George Irinas Verwirrung: Er wusste selbst nicht recht, ob dies eine Puppe oder ein Mensch war. Er sah zu, wie sie mit steifen Bewegungen zu den Stahlbändern ging und sie aufhob, und er kam zu dem Schluss, dass ihre Art sich zu bewegen oder auch nur dazustehen unvollständig wirkte. Sie hätte wahrlich ein Automat sein können.
Die starke Frau neigte den Kopf vor und zurück, während sie die Stahlbänder begutachtete. Dann starrte sie zum Publikum hinaus, warf die Bänder auf die Bühne, prüfte ihr Gewicht, hob sie hoch, umfasste sie an verschiedenen Stellen und zog.
So, wie sie sich bewegte, schien es, als würde sie keinerlei Kraft aufbieten, doch das Stahlband riss entzwei und bog sich, bis es ein großes O bildete, das sie dem Publikum präsentierte. Dann packte sie die beiden Abschnitte des Bandes, verdrehte und verzwirbelte sie und setzte die Ellbogen ein, um Winkel zu bilden, bis sie ein H geformt hatte, das sie ebenfalls der Menge präsentierte, die nun höflich applaudierte. Dann knickte sie die Bänder zusammen, zog sie durch ihre Hand, glättete sie und hielt etwas hoch, das wie ein I aussah. Schließlich zerrte sie die Bandabschnitte wieder auseinander und zwang sie zurück in die erste Form, die sie gebildet hatte, und die Menge fing an, fassungslos zu glucksen, als sie erkannte, was sie buchstabierte. Als sie das letzte O hochhielt und damit dem Staat ihre Ehrerbietung erwiesen hatte, hatte sie das Publikum, das bereits zu klatschen begonnen hatte, für sich gewonnen. Aber sie honorierte den Applaus nicht, sondern warf die Bandabschnitte weg und widmete sich ihrer nächsten Nummer.
Sie ging zu den Stahlträgern und richtete einen davon auf. An seinem Ende befand sich eine große, flache Grundplatte, die es leicht machte, den Träger auszubalancieren. Dann ging sie zu dem eisernen Tresor. Sie zog an der Tür, doch die war verschlossen. Das Publikum lachte, ahnte, dass dies Teil der Vorführung war und der Belustigung dienen sollte, doch die starke Frau spielte nicht wie erwartet den Trottel für sie. Stattdessen lauschte sie schläfrig auf das Klicken, während sie versuchte, den Safe zu knacken, bis sie schließlich mit den Schultern zuckte, aufgab, den Griff packte und einmal heftig zog.
Die Tür öffnete sich mit einem lauten Kreischen, und ein Teil des
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