Silenus: Thriller (German Edition)
von Stanleys Kreide begleitete die Laute der Lokomotive. George konnte von dem, was gesprochen wurde, nur wenig verstehen.
Nach einer Weile stand Franny auf und setzte sich ihm gegenüber auf die andere Seite des Gangs. Sie lächelte und sagte: »Die reden zu schnell für mich. Das ermüdet mich sehr.« Sie sah in der Tat extrem müde aus. Schwere Ringe hingen unter ihren Augen, die mit einem wilden Zickzackmuster roter Blutgefäße überzogen waren.
»Na ja, es ist schon recht spät«, sagte George. »Weiter hinten gibt es Schlafwagen. Dort können Sie bestimmt die Augen zumachen.«
»Nein«, sagte sie immer noch lächelnd. »Ich schlafe nicht.«
»Sie schlafen nicht? Gar nicht?«
»Nein. Von Zeit zu Zeit versuche ich es. Ich suche mir einen dunklen Ort, schließe die Augen und versuche einzudösen …« Sie lehnte sich zurück und demonstrierte es ihm. Ganz reglos saß sie da. Plötzlich wirkte sie wie eine wächserne Statue, wie sie mit geschlossenen Augen auf der Bank saß. Doch dann riss sie die Augen auf und sagte: »Aber ich tue es nie. Ich bin immer wach und kriege alles mit, was um mich herum vorgeht.«
»Wie leben Sie ohne Schlaf?«, fragte George.
»Diese Frage stelle ich mir jeden Tag«, sagte Franny. »Eine Antwort habe ich immer noch nicht gefunden.«
Sie knetete ihre Handflächen, dort, wo die Verbände fleckig waren. Ein Verband löste sich am Handgelenk, und George erhaschte einen Blick auf eine schwarze Schrift auf dem sichtbaren Stückchen Haut. Als sie merkte, dass er ihre Hand beäugte, zog sie den Verband fest.
»Wie haben Sie sich die Hände verletzt?«, fragte er.
»Das kommt von meinem Auftritt«, sagte sie. »Hast du ihn gesehen?«
»Ja! Sie waren unglaublich! Das muss ich zugeben. Ich habe schon viele Künstler gesehen, aber nur sehr wenige von denen können mit Ihnen mithalten.«
Sie lächelte, doch seine Meinung schien ihr nicht viel zu bedeuten.
»Ist etwas schiefgegangen?«, fragte George. »Sind Sie deswegen verletzt?«
»Oh nein«, sagte Franny. »Alles hat perfekt geklappt. Das passiert einfach jedes Mal. Hände sind nicht dazu geschaffen, Metall zu biegen und zu verdrehen oder Statuen hochzuheben und mit Steinen zu jonglieren. Der Verschleiß ist ganz normal.«
»Dann ist das kein Trick? Kein Gummitresor, keine Gummistreben oder irgendwas?«
»Nein, nein, das ist alles real. Die Tresore sind aus echtem Eisen, die Bänder aus echtem Stahl. Und die Gewichte, die Gewichte sind auch alle real.« Sie wirkte unendlich müde, so, als könnte sie gerade jetzt das enorme Gewicht dieser Tresore und Eisenstangen auf sich lasten fühlen.
»Wie machen Sie das?«, fragte George.
Sie musterte ihn ein wenig verschlagen. »Willst du das wirklich wissen?«
»Klar.«
Franny sah sich um. Dann beugte sie sich vor und sagte: »Ich beiße die Zähne zusammen.«
»Sie tun was?«
»Ich beiße die Zähne zusammen, wenn ich auftrete. Du musst sie nur auf die richtige Weise zusammenbeißen. Wenn du das schaffst, dann schenkt dir das viel Kraft.« Sie beugte die Arme, so, als wollte sie ihm hervorquellende Muskeln vorführen, doch sie wirkte ausgezehrt wie zuvor. Dann zwinkerte sie ihm zu und berührte einen Nasenflügel.
»Aha. Tut es sehr weh?«
»Ja. Wirklich sehr. Aber es ist beherrschbar.«
»Ich verstehe«, sagte George.
»Stimmt es, dass du die Männer in Grau hören kannst?«, fragte Franny. »Dass du sie fühlen kannst wie ein Wünschelrutengänger das Wasser?«
»Sieht so aus«, sagte er. »Es ist, als würde alles um sie herum einfrieren. Aber vor allem fallen mir die Geräusche auf. Sie verstummen alle. Ich schätze, das könnte vielleicht daran liegen, dass ich ein so gutes Gehör habe, aber irgendwie ist mir das unheimlich.«
»Er hat großes Interesse an dir«, sagte sie mit einem Nicken in Silenus’ Richtung.
George richtete sich auf seinem Sitz auf. »Wirklich?«
»Ja«, sagte sie, ohne jedoch seine Begeisterung zu teilen. Stattdessen wirkte sie überaus ernst. »Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig. Harry ist ein sehr kluger Mann, aber manchmal liegt er weniger richtig, als er glaubt. Manchmal ist er sehr engstirnig. Er sieht, was er sehen will. Und er versteht nicht, dass das den Leuten um ihn herum wehtun kann.«
»Oh«, machte George.
»Also, wie gesagt, sei vorsichtig.«
»Franny!«, rief Silenus auf der anderen Seite des Waggons. »Was machst du da? Komm her, das betrifft dich auch.«
Franny lächelte ihm noch kurz zu, stand auf und kehrte in den Kreis
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