Silenus: Thriller (German Edition)
nicht«, wandte George ein.
Die junge Frau beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr. Sie roch nach Jasmin und feuchter Erde, nach Heu und frisch gemähtem Gras. Als sie flüsterte, fühlte sich das Wort wie eine warme Brise an, die über seine Wangen glitt, und ihr Atem an seinem Ohr klang wie milder Regen.
»Oh«, sagte George. »Ich glaube, ich habe schon einmal von dir gehört.«
»Wie ich schon sagte, ich bin die Beliebteste aus meiner Sippe«, nickte sie. »Ob es mir gefällt oder nicht. Es tut ihnen schrecklich weh, aber wir sind so oder so ein streitbarer Haufen.« Dann beugte sie sich erneut vor und drückte ihm einen kühlen Kuss auf die Wange. »Mein Segen ist mit dir, George. Es ist nur eine Kleinigkeit, die dir Gutes bringen könnte, aber ich bin nicht sicher, dass es für das reicht, was noch auf dich zukommen mag. Einst hat man mir erzählt, Silenus sei ein getriebener Mann und hätte es mit mächtigen Leuten zu tun, die selbst mir verborgen bleiben. Ich kann nicht erahnen, was du sehen oder wohin er dich führen wird. Aber solltest du rufen, so werde ich kommen, wenn ich kann.«
»In Ordnung«, sagte George und rieb sich die Wange. »Danke.«
Sie lächelte. »Auf Wiedersehen, Junge«, sagte sie und tapste wieder die Straße hinunter.
George sah ihr nach. Er war noch nie von einem Mädchen geküsst worden, und da dieser erste Kuss unter so seltsamen Umständen stattgefunden hatte, wusste er nicht, ob dieses flüchtige Gefühl der Taubheit normal war. Und aus irgendeinem Grund dachte er an Colette und schämte sich. Es war, als wäre dieser keusche Kuss ein Betrug an ihr, obwohl sie ihn bisher kaum beachtet hatte.
Dann lebte der Wind in der schmalen Straße auf, ein Schneegestöber schien das Mädchen zu verhüllen, und dann war es fort. Die Blase reiner Luft löste sich auf, und Schnee rieselte auf Georges Mütze. Er sprang die Stufen hinauf und rannte in das Hotel.
George brauchte lange, um sich einigermaßen zu säubern. Er war mit Kohlenstaub bedeckt. Eisiges Wasser hatte seinen Mantel und seine Socken getränkt. Als er es endlich geschafft hatte, seine klatschnassen Kleider abzulegen und vom Schmutz zu befreien, hatte er fast jeden Funken Energie verbraucht, den er besaß. Er legte sich auf das Bett. So verwirrt er auch war, er sehnte sich nach Schlaf. Doch kaum hatte sein Kopf das Kissen berührt, ertönte ein Pochen an der Tür.
Er öffnete und sah Stanley und Silenus im Korridor stehen. Stanley hielt eine brennende Laterne in der Hand. »Wo zum Teufel bist du gewesen?«, fragte Silenus.
»Was meinen Sie?«
»Wir haben schon vor fast einer Stunde geklopft und keine Antwort erhalten.«
»Oh«, machte George. Aber er hatte nicht die Absicht, seinem Vater zu erzählen, was er erlebt hatte; Silenus hatte ihm so viele Dinge vorenthalten, dass George es nur für fair hielt, selbst ein paar Geheimnisse zu wahren. »Ich war … unterwegs.«
Silenus zog eine Braue hoch.
»Ich wurde durch eine äußerst interessante Konversation mit einem Fremden aufgehalten«, fügte George steif hinzu.
»Wenn du es sagst«, sagte Silenus. »Zieh dich an. Wir gehen aus.«
George war bestürzt bei der Vorstellung, erneut in dieses Wetter hinauszugehen. »Was? Warum?«
»Deine drei Wochen sind um, Junge«, verkündete Silenus. »Es ist Zeit, dass du es erfährst.« Damit machte er kehrt und ging mit Stanley dicht auf den Fersen den Gang hinunter.
George schlüpfte schnell in seine Kleider und folgte den beiden Männern. »Dass ich was erfahre?«, fragte er.
»Wie die Welt erschaffen wurde«, sagte Silenus.
10
„AM ANFANG …“
George hatte keine Vorstellung, wo sie ihn hinbringen würden, doch als sie draußen waren, gingen sie direkt zum Theater. Als sie die Hintertür verschlossen vorfanden, trat Silenus zur Seite und sagte zu Stanley: »Mach auf! Und beeil dich. Ich friere.« Stanley ging in die Knie und zog einen Satz Dietriche hervor. Binnen Sekunden hatten seine flinken Finger die Tür geöffnet.
Das Innere des Theaters wirkte bei Nacht regelrecht bedrohlich. Kein Licht fand den Weg von draußen hinein, also blieb nur der Lichtschein der Lampe in Stanleys Hand. Der Wind peitschte an Wände und Fenster, strich stöhnend und wispernd um das Gebäude herum. Die geballte Leere des Hauses wurde bedrückend, als George auf die Bühne trat und die dunklen Vorhänge oder die fernen Andeutungen von Dachbalken oder die endlosen Reihen leerer Sitze betrachtete. Es fühlte sich an, als
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