Silenus: Thriller (German Edition)
ist.« Wieder musterte sie ihn eingehend, studierte jeden Zentimeter von ihm, so, als suche sie etwas. Was sie fand, schien sie zutiefst zu verwirren. »Ich kann es beinahe sehen«, murmelte sie vor sich hin, während sie ihn untersuchte. »Aber es ist sehr flüchtig … es ist so schwach, so elementar , dass ich es kaum erkennen kann.«
»Was erkennen?«, fragte George.
Das Mädchen tat einen Schritt zurück und betrachtete ihn vage beeindruckt. »Etwas an dir ist anders, Junge«, sagte sie. »Etwas, das du irgendwann aufgefangen haben musst. Es ist in dir, irgendwo. Und ich weiß nicht, wo es hergekommen ist, aber ich glaube, es ist sehr, sehr alt. Sogar älter als ich. Ich kann es hören, glaube ich … Gesang, sehr leise …«
Plötzlich kam George die seltsame Erinnerung in den Sinn, die sich während Silenus’ Auftritt bemerkbar gemacht hatte, der dunkle Grabhügel, der Lichtschnörkel und die Stimme, die in der Finsternis sang und darauf wartete, gehört zu werden …
»Ich glaube, es wird dir nicht schwerfallen, zu sehen, wie die Welt wirklich funktioniert«, sagte das Mädchen. »Türen, die anderen verschlossen bleiben, könnten sich für dich öffnen. Und darum tust du mir leid, denn nicht alle Türen führen zu Orten, die aufzusuchen man sich wünschen kann.«
Dann wandte sie sich ab und ging weiter die Straße hinunter, und die kleine Blase wolkenlosen Himmels folgte ihr auf Schritt und Tritt.
George holte sie wieder ein und fragte: »Warum hilfst du mir?«
Sie dachte kurz nach. »Weil du nett warst, obwohl du es nicht hättest sein müssen«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass du begreifst, wie kostbar so etwas sein kann. Warum bist du für mich eingestanden?«
»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Es kam mir einfach gemein vor, das, was sie zu dir gesagt haben. Ich habe in letzter Zeit viele Gemeinheiten erlebt, und ich wollte nicht noch mehr erleben.«
»Was du getan hast, war sehr tapfer«, sagte das Mädchen. »Du hast dich Dingen gestellt, die viel größer sind als du es bist, ob du es gewusst hast oder nicht. Was hat dich hergeführt, Junge?«
»Mein Vater«, seufzte er. »Silenus. Er ist der Leiter unserer Künstlergruppe.«
Das Mädchen hielt inne, als sie seine Worte hörte. »Silenus, sagtest du?«
»Ja. Warum?«
Sie legte die Stirn in Falten. »Ich habe von ihm gehört.«
»Wirklich?«, fragte George. »Was hast du gehört?«
»Nur Geflüster«, antwortete das Mädchen. »Und selbst das war vage. Aber ich habe gehört, er wäre ein sehr mächtiger Mann, mit dem nicht zu spaßen ist. Das gilt sogar für meine Verwandten. Und wir sind auf unserem Gebiet ebenfalls sehr mächtig.«
»Aber warum?«, fragte George von Ehrfurcht ergriffen.
»Das weiß ich nicht genau«, sagte sie. »Er hält sich nur selten unter meinem Himmel auf. Aber wenn er es tut, dann schieben sich all meine Wolken zu ihm, und die Regentropfen fallen plötzlich schräg herab, um zu seinen Füßen zu landen, immer nur ein bisschen. Niemandem außer mir würde das je auffallen. Es scheint immer, als würde er etwas … Schweres tragen. Etwas sehr Schweres. So schwer, es könnte das Herz der ganzen Welt sein.«
»Wie sollte irgendjemand so etwas tragen?«
Sie lächelte. »Du hast schon vergessen, was ich dir gesagt habe.«
»Habe ich?«
»Ja«, sagte das Mädchen. »Dass es die Art gibt, wie die Welt zu funktionieren scheint, und die, wie sie es wirklich tut. Komm.« Und sie führte ihn tiefer in den Schneesturm.
Irgendwann schälte sich das Hotel vor ihnen aus dem herumwirbelnden Schnee. Sie blickte hinüber und nickte. »Hier muss er abgestiegen sein«, sagte sie. »Da ist ein Sog, den ich nur gespürt habe, wenn Silenus in der Nähe war. Das passt – Boreas hat sich beklagt, seine Stürme würden auf diese Stadt zustreben, als hätten sie einen eigenen Willen. Aber du und ich, wir kennen die Wahrheit, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht«, sagte George. Er starrte zu dem einzigen erleuchteten Fenster hinauf und stellte sich vor, es wäre das seines Vaters. »Ich habe das Gefühl, ich weiß gar nichts.«
Sie lächelte traurig. »Tja. Du solltest aber wissen, dass ich deine Gönnerin bin. Du bist für mich eingetreten und du hast ein gutes Herz, Junge, das werde ich nicht vergessen. Ich finde dich merkwürdig, und ich denke, ich werde dich genau im Auge behalten. Wenn du mich je brauchst, ruf einfach meinen Namen. Wenn ich in der Nähe bin, werde ich zu dir kommen.«
»Aber ich kenne deinen Namen
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