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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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beherberge das Theater ein unsichtbares Publikum, das von der Vorstellung gar nicht beeindruckt war.
    Stanley zog Kingsleys Kulisse aus (die nun wieder leer war), und Silenus trat an den Bühnenrand und blickte hinaus in den leeren Theatersaal. »Es gibt nur wenig, was unheimlicher ist als ein Ort, der voller Leute sein sollte und doch leer ist«, sagte er. Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen, und er sagte: »Lass mich dir eine Frage stellen, Junge – warum bist du zum Vaudeville gekommen?«
    Die Frage traf George unvorbereitet, zumal er bisher nicht versucht hatte, seine Beziehung zu Silenus zu offenbaren, und gerade jetzt fühlte er sich dazu nicht bereit. »Ich bin nicht sicher, ob ich das weiß.«
    »Eine ehrliche Antwort. Und wahrscheinlich eine recht verbreitete. Mit großen Plänen und Illusionen tauchen wir ein in dieses Spiel, doch nach einer Weile verblassen die Gründe für unseren Einstieg. Warum machen wir dann weiter, frage ich mich. Wir verbringen unser ganzes Leben damit, Illusionen zu schaffen und zu perfektionieren, die doch nur eine Handvoll Minuten Bestand haben, je weniger, desto besser. Unsere tägliche Arbeit ist weiter nichts als das kurze Aufflackern einer Flamme, die gleich darauf erlischt. Die meisten von uns Älteren arbeiten gar nicht mehr für das Publikum. Dieser Reiz verschwindet zuerst. Für uns ist es Tag um Tag, als würden wir in einem leeren Theater auftreten. Also, warum machen wir weiter? Ist es nur die Routine, die Behaglichkeit des Vertrauten? Oder spielen wir nur noch für uns selbst? Oder vielleicht zum Amüsement von etwas, das größer ist, größer als Menschen oder sterbliche Wesen im Allgemeinen … Das macht mich rasend.«
    Dann hörten sie das Klackern von Kreide, und als sie sich umdrehten, sahen sie, dass Stanley äußerst aufgeregt auf seiner Tafel schrieb. »Was ist denn jetzt los?«, fragte Silenus.
    Stanley hörte auf zu schreiben und hielt die Tafel vor die leere Kulisse, als könnte die sie sehen und die Schrift lesen. Geschrieben hatte er: BITTE SEI VERNÜNFTIG, WIR HABEN NICHT DIE GANZE NACHT ZEIT. George konnte nicht begreifen, was Stanley von der Kulisse wollte, die einfach nur da hing und gar nichts tat.
    Silenus ging an Stanley vorbei und marschierte geradewegs zu der Segeltuchwand. »Hör zu, du zickiger Haufen Scheiße«, sagte er zu der Kulisse. »Ich habe zu viel Zeit damit verbracht, dich herumzuschleppen, um deine verfluchten Trotzanfälle auch nur eine Minute länger auszuhalten! Ich bin nicht derjenige, der deinen ursprünglichen Träger getötet hat, aber ich bin durchaus bereit, ein hübsches Feuer zu entfachen und dich umzubringen! Also, nimm Vernunft an und liefere uns deine Show, oder ich schwöre bei Gott, ich werde diese Zigarre mit einem Lächeln auf dir ausdrücken.«
    Die Kulisse blieb leer. George flüsterte Stanley zu: »Was denkt er, wird die Kulisse tun?«
    Stanley schrieb: KEINE KULISSE. HAUT.
    »Was soll das heißen, Haut?«, fragte George.
    »Das ist Chimärenhaut«, antwortete Silenus, nahm die Zigarre aus dem Mund und blies auf die Glut, bis sie rot aufleuchtete. »Eine Kreatur vieler Gattungen – eine Ziege, ein Löwe, eine Schlange – und sie tritt in vielfältigen Formen und Farben auf.« Er senkte die glühende Zigarre in Richtung Kulisse. »Wenn man die Chimäre auf die richtige Art häutet, dann erhält die Haut gewisse Fähigkeiten. Vor allem kann sie Bilder und Eindrücke projizieren, wenn man sie unter Kontrolle hat.« Die brennende Zigarre näherte sich langsam der Kulisse. »Aber sie sind furchtbar eigen, und manchmal«, sagte er, und die Glut war der Kulisse nun sehr nahe, »muss man sie einfach zwingen .«
    Als die Zigarre nur noch eine Haaresbreite entfernt war, veränderte sich die Oberfläche des Segeltuchs (oder der Haut, wie George sich im Stillen ermahnte): Sie erblühte in einem wogenden Dunkelblau, in dessen Zentrum kleine Lichtpunkte flackerten. Bühne und Zuschauerraum badeten im Licht dieses überirdischen Schillerns und wirkten noch fremdartiger.
    »Es bewegt sich!«, schrie George.
    »Ja, ja, es bewegt sich«, nickte Silenus. »Ich wusste, ich kann das Ding wieder zur Vernunft bringen. Vielleicht hätten wir Colette mitnehmen sollen. Sie scheint es besonders zu mögen.«
    George war augenblicklich vollends fasziniert und wollte die Haut berühren, fürchtete sich aber ein wenig davor, was dann geschehen würde. »Wo haben Sie die her?«
    »Ich habe sie beim Kartenspiel gewonnen«, sagte Silenus.

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