Silenus: Thriller (German Edition)
Angehörigen der Truppe, dessen Job auch ein Mitarbeiter des Theaters übernehmen konnte, wurde – zu seinem Entsetzen – die Aufgabe übertragen, sich um Kingsley zu kümmern.
George brachte also in dem schäbigen Hotel Stunden damit zu, Kingsley ein kaltes Tuch an die Stirn zu halten und ihm Tinkturen mit Opium und Guajak zuzubereiten. Zunächst reagierte Kingsley zimperlich und wehrte sich gegen Georges Pflege, doch irgendwann war er zu erschöpft, um Probleme zu machen, und gab nach.
»Sag mir«, flüsterte Kingsley einmal, nachdem George ihm seine Medizin verabreicht hatte, »schätzt er dich?«
»Wer?«
»Harry. Schätzt und liebt er dich? Ist er ein liebender Vater?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete George und schniefte. »Vielleicht gewöhne ich mich einfach daran, nicht beachtet zu werden.«
»Er weiß gar nicht, was für ein Glück er hat«, meinte Kingsley, hustete und fuhr fort: »Ich wäre sehr gern Vater gewesen. Ich habe das Gefühl, es war mir bestimmt, ein Vater zu sein.«
»Waren Sie je verheiratet?«, fragte George.
»Ein Mal«, bejahte Kingsley.
George war erstaunt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand es mit einem so reizbaren Mann wie Kingsley aushalten konnte.
»Kinder sind ein Wunder«, sagte Kingsley. »Jeder von uns ist ein Wunder. Verstehst du das?«
»Ich glaube schon, ja.«
»Das ist gut. Nicht … nicht jeder kann das. Es ist die Rolle und der Lebenszweck von Männern und Frauen, Kinder zur Welt zu bringen und ihnen alles zu geben, was sie nur geben können. Das ist die einzig wahre Erfüllung, die das Leben zu bieten hat. Es tut mir leid, dass Harry sich dir gegenüber nicht so verhält.«
»Hatten Sie und Ihre Frau Kinder?«
Der Professor wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster. Dann nippte er an seiner Tinktur und sagte: »Ja«, ehe er in einen tiefen Schlaf fiel.
George betrachtete ihn noch einen Moment, bevor er hinausschlüpfte und den Korridor hinunterging, um sich auf den Weg zum Theater zu machen, in der Hoffnung, seinen Vater und Colette sehen zu können. Als er ein Zimmer passierte, hörte er von drinnen eine Stimme fragen: »Ist es vorbei?«
Er drehte sich um und sah Franny auf ihrer Bettkante sitzen und den Boden anstarren. »Was?«, fragte er.
»Ist er gestorben?«, wollte sie wissen.
»Kingsley? Nein! Nein, es geht ihm gut.«
»Oh«, machte sie. »Nun ja, jetzt wird es nicht mehr lange dauern.«
»Er … er stirbt doch nicht«, entgegnete George. »Er ist nur krank, das ist alles.«
»Nein«, sagte Franny. »Er stirbt. Er wird sterben, schon bald. Und es wird schmerzhaft sein.«
»Woher weißt du das? Bist du Ärztin?«
»Nein.«
»Wie kannst du dann so sicher sein?«, fragte er.
»Ich weiß diese Dinge«, sagte Franny.
»Niemand weiß so etwas genau.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich schon.«
»Woher?«
Sie blickte auf und schien mit sich zu ringen. »Möchtest du das wirklich wissen?«
George zögerte. Die Art, wie sie sprach, weckte in ihm den Verdacht, dass sie schon eine Weile darauf gewartet hatte, dass er Interesse zeigte. Trotzdem sagte er: »Ja.«
»Also gut. Dann komm rein.«
Er trat auf die Schwelle, ohne ganz einzutreten. Die Leere ihres Zimmers vermittelte ihm das Gefühl, der Raum sei fürchterlich groß, und das wenige Licht im Inneren wirkte grau und trostlos. Franny saß auf ihrem Bett wie eine Puppe, die von irgendeinem Kind achtlos zurückgelassen worden war, und war bis unter das Kinn in Umhänge, Pullover und Schals gewickelt wie eine Mumie.
»Du wirst schon reinkommen müssen, George«, sagte Franny und lächelte schläfrig.
Er tat, wie ihm geheißen. Ihr Bett war unberührt. Sie konnte hier nicht geschlafen haben, überlegte er, doch dann fiel ihm ein, dass sie gesagt hatte, sie schliefe niemals.
»Schließ die Tür«, bat Franny.
»Warum?«, fragte er.
»Weil das niemanden etwas angeht.«
»Wenn es niemanden etwas angeht, warum willst du es mir dann erzählen?«
»Weil du gefragt hast. Und weil ich will, dass du es weißt.«
George war verunsichert. Von dem kurzen, von Zorn geprägten Moment abgesehen, in dem Colette in Hayburn bei ihm gewesen war, war er noch nie allein mit einer Frau in einem Schlafzimmer gewesen. Er schloss die Tür, und Franny winkte ihm zu, zu ihr zu kommen und sich neben sie auf das Bett zu setzen. Wieder zögerte er, aber Franny wirkte auf ihn so kraftlos und leer, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie irgendetwas Ungebührliches tun würde, also ging er
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