Silenus: Thriller (German Edition)
hin und setzte sich zu ihr.
»Willst du wirklich wissen, woher ich weiß, dass er sterben wird?«, versicherte sie sich, noch immer verschlafen lächelnd, mit ihrer bebenden Stimme.
»Schätze schon.«
»Ich war nicht immer die starke Frau, weißt du. Früher, vor diesem Programm, hatten Harry und ich eine gemeinsame Nummer. Er hat jongliert und Zaubertricks vorgeführt, und ich … ich habe hellgesehen. Und darin war ich sehr, sehr gut. Das lag daran«, sagte sie gelassen, »dass das, was ich gesehen habe, immer die reine Wahrheit war.«
»Die Wahrheit?«, hakte George nach. »Also, Moment … willst du etwa sagen, du könntest die Zukunft vorhersagen?«
Sie nickte. »Oh, ja. Wenn ich es will.«
George lachte. »Ist das dein Ernst?«
»Mein voller Ernst«, sagte sie. »Und ich finde das nicht lustig.«
»Oh«, machte George und hüstelte.
»Damals haben die Leute angefangen, mir schlimme Fragen zu stellen«, erzählte Franny. »Fragen über Aktien und Pferde und Frauen. Harry hat gesagt, das wäre nicht die Art von Show, die wir machen sollten, also hat er dafür gesorgt, dass ich damit aufhöre.«
»Wie kannst du die Zukunft vorhersagen?«
»Das liegt an meiner Zeit«, erklärte sie. »Zeit hat für mich eine andere Bedeutung, George. Sie verläuft anders. Stell dir vor, die Zeit wäre ein Fluss, und alle, die du kennst, treiben darauf. Du kannst nur das rauschende Wasser sehen, die Felsen, die aus ihm hervorragen, und die nächste Biegung. Aber ich bin nicht auf dem Fluss. Ich sitze am Ufer und sehe alle vorbeiziehen. Und ich kann die Biegungen sehen, die vor ihnen liegen.«
»Und in dieser Zukunft siehst du den Professor sterben?«, fragte er.
Sie nickte.
George lächelte ein wenig. Er war nicht so recht überzeugt, dass sie die Wahrheit sagte. Andererseits war es stets schwer, Franny ernst zu nehmen, und deswegen bedauerte er sie, diese androgyne, verrückte Frau mit ihren Fäustlingen und den Dutzenden von Tüchern. »Wie stirbt er?«
»Er wird gefressen«, prophezeite sie voller Ernst. »In der Nacht gefressen von Tieren.«
»Von Tieren?«
»Ja.«
»Und siehst du dich in dieser Zukunft auch sterben?«
»Nein.« Sie schloss die Augen und atmete tief durch. »Nein, nicht in dieser. Mein Tod findet so viel später statt, und es wird nicht mein erster sein. Der liegt in der Vergangenheit. Aber mein zweiter Tod ist etwas, das ich schon lange, lange Zeit beobachte.« George fragte sich, was sie damit meinte. Zweiter Tod? Doch sie fuhr fort: »Er kommt jeden Tag näher, doch ich kann die Einzelheiten nicht erkennen. Ich sehe ein paar Dinge – die durchbrochene Spiegelung des Mondes auf den schwarzen Wassern eines seltsamen Meeres … ich lächele und lache und halte etwas sehr Schweres in meinen Händen. Und ich habe in dieser Zeit keinen Namen. Aber das ist alles, was ich sehe.«
Georges Lächeln erstarb allmählich. Er war nicht mehr davon überzeugt, dass das alles nur ein Scherz war. »Siehst du, wie ich sterben werde?«
Franny wandte den Blick ab und starrte in eine Ecke. »Nein«, sagte sie.
»Nein? Du siehst es nicht?«
»Nein. Ich sehe gar nichts. Ich glaube, George … ich glaube, alles wird zu Ende gehen, bevor du stirbst. Und du wirst als Einziger übrig bleiben, wenn dieses Ende gekommen ist. Wenn ich hinschaue, gibt es da nichts und niemanden außer dir auf der Welt, und du weinst. Und danach ist nichts mehr. Es gibt keine Zeit mehr, die ich sehen könnte.«
George war zunehmend erschüttert. Es lag an der Art, wie sie das alles sagte, so, als würde sie versuchen, sich an irgendeine Belanglosigkeit zu erinnern, beispielsweise daran, wo sie ihre Handtasche abgelegt hatte. »Kannst du diese Dinge wirklich sehen?«, fragte er.
»Ja. Für mich ist das alles offensichtlich. So, wie es auch für jeden anderen offensichtlich wäre, der aus der Zeit gefallen ist.«
»Du bist … aus der Zeit gefallen? Was meinst du damit?«
Plötzlich wirkte sie auf eigenartige Weise alarmiert. Sie sah ihn an, und er dachte, sie würde sich womöglich fürchten. »Willst du das wirklich wissen? Das ist ein großes Geheimnis.«
George war nicht sicher, ob er es wissen wollte, doch er nickte: »Ja.«
»Der Grund dafür ist ganz einfach«, sagte sie. »Es liegt daran, dass ich tot bin, und zwar schon eine ganze Weile. Und die Toten sind nicht mehr Teil der Zeit, nicht wahr?«
Er starrte sie an. Es dauerte eine Weile, bis er ihre Worte verarbeitet hatte. »Was?«
Sie nickte, als wäre das das
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