Silenus: Thriller (German Edition)
ich bin ein totes Ding, George. Ich bin tot.«
George musterte sie aus dem Augenwinkel. Zugleich wand er sich und war bemüht, sie nicht anzusehen. Sie roch nach Kampfer und alten Kleidern, und durch ihre gekrümmte Haltung klemmten ihre kleinen, festen Brüste zwischen ihren Armen.
»Es ist so ermüdend«, seufzte sie. »Alles ist so verhalten und fade … ich bin schrecklich müde, und mir ist kalt, George, und alles, was ich will, ist schlafen. Aber ich kann nie schlafen. Ich bin immer wach. Immer.«
»Bitte«, bat George sanft, »zieh dich an.«
»Anziehen?«, fragte sie verwirrt.
»Ja«, wiederholte George. »Bitte, zieh dich an.«
Sie lächelte und sagte: »In Ordnung.« Dann zog sie Bluse und Mantel an und setzte sich wieder neben ihn. »Ich kann fühlen, wie die Welt über mich hinweggleitet wie in einem Traum. Die Zeit ist wie eine Brise, und wir sind nur Federn, die auf ihr schweben. Eines Tages werde ich aufwachen, George. Ich werde aufwachen und auch auf ihr davongleiten. Jedenfalls hoffe ich, dass es so sein wird. Ich hoffe, ich werde aufwachen.«
George wartete auf mehr, doch sie blieb stumm. Langsam stand er auf. Sie zwinkerte nicht, sah ihn nicht an. Es war, als wäre sie sich ihrer Umgebung gar nicht bewusst. Er schaute sie an und dachte an die Farbe ihrer Haut und die unendlichen Windungen der Tätowierungen und öffnete die Tür.
»Wohin gehst du, Bill?«, fragte sie leise. Er drehte sich um und erkannte, dass sie nicht ihn ansah, sondern mit dem Boden redete. »Wo gehst du hin?«, fragte sie erneut.
Wieder wartete er, doch sie sagte weiter nichts, also ging er hinaus, schloss die Tür hinter sich und blieb schwer atmend auf dem Korridor stehen.
Als er an sich herabblickte, merkte er, dass seine Hände zitterten. Er sah sich auf dem Korridor um. Da war niemand. Langsam ging er zurück zu seinem eigenen Zimmer. Seine Beine fühlten sich unter ihm schwach und irgendwie komisch an, so, als könnten sie ihm jeden Moment den Dienst verweigern, also ging er zu seinem Bett, legte sich mit offenen Augen hinein und lauschte dem Wind, der durch die Ritzen seiner Wand pfiff, und dem Murmeln der Stimmen in den umliegenden Räumen, und er hasste sich mehr als irgendetwas anderes auf der Welt.
16
DAS WUNDER DES PROFESSORS
George erzählte niemandem, was vorgefallen war. Franny konnte er leicht aus dem Weg gehen, während er sich um Kingsley kümmerte, doch bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen sie in seine Nähe kam, errötete er voller Scham und war gezwungen, sich zu entschuldigen. Er war überzeugt, sie würde irgendjemandem davon erzählen, und dann würde ihn der Rest der Truppe entrüstet auf die Straße werfen. Aber Franny erzählte anscheinend niemandem etwas; sie schien das Geschehene schon im nächsten Moment vergessen zu haben.
Er wusste nicht recht, warum er so darauf reagiert hatte. Dieser kurze, schmerzhafte Anblick von so viel brauner Haut hatte ihn mit einer süßen, feuchten Wärme erfüllt und schien ihm doch wie eine kalte, zitternde Flamme. Und trotzdem begehrte er Franny in keiner Weise. Er fragte sich, was wohl mit ihm nicht stimmen mochte.
George hatte nicht viel Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn trotz all seiner Pflege ging es Kingsley schlechter und schlechter. Bisweilen hatte er deliriöse Anfälle, während derer er unablässig von Kindern, Babys und Säuglingen redete, und häufig schrie er dann, dass diese Kinder entzwei seien, in Einzelteile zerfallen oder furchtbar geschunden oder dass sie keine Augen hätten. Im Zuge dieser Anfälle erfüllte ihn ein so tiefes Grauen, dass er stundenlang weinte, aber in seinen klareren Momenten konnte er sich nie an sie erinnern.
Es war einer jener seltenen klaren Momente, in denen Kingsley zu George plötzlich »Lucille« sagte.
»Was?«, fragte George, der damit beschäftigt war, eine neue Tinktur anzurühren.
»Der Name meiner Frau«, erklärte Kingsley und legte sein Kinn auf die Decke. »Ihr Name war Lucille.«
»Oh. Ja, ich erinnere mich, dass ich Sie kürzlich nach ihr gefragt hatte. Wie war sie?«
Kingsley schwieg eine Weile. »Stolz«, erzählte er dann. »Und wunderschön. Wir haben in einer kleinen Stadt in Maryland gewohnt. Ich war dort Anwalt.«
»Ich wusste nicht, dass Sie Anwalt waren. Dann haben Sie also nicht von Anfang an im Showbusiness gearbeitet?«
»Nein«, sagte Kingsley und lächelte schwach. »Und ich bin auch kein Professor, George, obwohl ich vermutlich hinsichtlich
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