Silenus: Thriller (German Edition)
sprechen kannst?«
Stanley schüttelte lächelnd den Kopf.
»Warum nicht?«
DIE MEISTEN MENSCHEN SCHLAGEN NUR ZEIT TOT, schrieb er. SIND IMMER IN BEWEGUNG, REDEN UND WARTEN. EIN MOMENT IST ETWAS, DAS SIE ERDULDEN, NICHT ETWAS, DAS MAN GENIESSEN SOLLTE. Er wischte die Tafel ab und schrieb: STILLE HILFT MIR, DEN MOMENT ZU SCHÄTZEN. ANDERS ZU DENKEN. ES LIEGT FRIEDEN IM LOSLASSEN. DARIN, DINGE UM DER STILLE WILLEN AUSZULÖSCHEN. EINFACH NUR DAZUSITZEN IST EIN GENUSS.
»Es ist gut, dass du bei ihm bist. Bei meinem Vater, meine ich«, sagte George. »Ich glaube, er braucht jemanden wie dich, der ihm hilft, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dich braucht er mehr als mich.«
Wieder musterte Stanley ihn bekümmert. Er hatte große, sanfte braune Augen mit überaus zarten, beinahe femininen Wimpern. Er schrieb: SEI NICHT BÖSE AUF IHN. ER LEBT SCHON SO LANGE NUR FÜR DIESE SACHE. ER KENNT GAR NICHTS ANDERES MEHR.
»Man sollte annehmen, er würde wenigstens versuchen wollen, etwas mehr wahrzunehmen«, seufzte George. »Er denkt nur an das Geschäft, die Truppe und die Weise. Ich bin ihm überhaupt nicht wichtig. Nur ein einziges Mal hat er mich ›Sohn‹ genannt.«
SICH ZU ÄNDERN IST SCHWER. BESONDERS, WENN MAN SO ALT IST WIE ER.
»So alt ist er nicht. Er ist doch erst in den Vierzigern, oder?«
Stanley wich seinem Blick aus und schrieb: VIELLEICHT. Dann wandte er sich ab, um seine Hände aufzuwärmen, schrieb noch etwas und drehte sich wieder um. Er hielt die Tafel hoch, und seine Augen sahen trauriger aus als je zuvor. Auf der Tafel stand: DEIN VATER LIEBT DICH, GEORGE. BITTE VERGISS DAS NICHT. MIR ZULIEBE.
»Das ist kaum zu glauben«, sagte George. »Besonders, wenn alles so schwer ist.«
SCHWER? SIEH DICH UM. IST DAS ETWAS UNERFREULICHES?
George musterte die Schneeflocken, die von dem mit Sternen gesprenkelten Himmel herabrieselten. Chicago leuchtete in der Ferne, und ihm war, als befinde er sich auf einem tiefen, dunklen Meer und stünde am Bug eines Schiffes, das heimwärts segelte.
Er lächelte. »Nein. Nein, ich glaube, das ist es nicht.«
Stanley nickte. DAS IST IMMER DAS BESTE, WAS DU TUN KANNST. DIR EINGESTEHEN, DASS DIE DINGE ERFREULICH SIND, WENIGSTENS FÜR EINE WEILE. Er wischte die Tafel ab und schrieb: LASS MICH MIT HARRY REDEN. ICH WERDE VERSUCHEN, DIE DINGE INS LOT ZU BRINGEN. BIS DAHIN VERSUCH BITTE EINFACH ZU VERGESSEN, WAS PASSIERT IST.
»Das wird mir nicht leichtfallen«, sagte George.
Stanley schrieb: HABE ICH NIE BEHAUPTET.
»Also gut«, stimmte George zu. »Wenn du es sagst.«
Dann legte Stanley George eine Hand auf die Schulter, und seine langen Finger berührten sacht Georges Nacken. Als er die Hand wegzog, streiften seine Finger über Georges Arm, als wollte er mehr von ihm spüren. Diese Berührung verunsicherte George, er, allein auf dem Dach mit diesem viel älteren Mann, aber er wusste nicht recht, wieso.
Sie hörten, wie jemand ihre Namen rief, und als sie die Tür zum Treppenhaus erreichten, sahen sie Colette, die in ihrem dünnen Mantel zitterte.
»Ich dachte doch, ich hätte euch zwei hier raufgehen sehen«, sagte sie. »Was zum Teufel macht ihr hier?«
»Den Ausblick genießen«, antwortete George. »Was ist los?«
»Es ist Kingsley«, erklärte sie. »Er kann nicht aus seinem Bett raus. Es tut zu sehr weh, sagt er.«
Kingsley lag in seinem Bett, blass und schwitzend und kaum bei Bewusstsein, während Silenus und der Rest der Truppe ihn musterten. Seltsam verträumt beharrte er darauf, dass seine Marionetten zu ihm gelegt wurden, und Stanley wurde mit der wenig beneidenswerten Aufgabe betraut, sie herauf in das Zimmer zu bringen. Als der Mann bald darauf eine Hand auf eine der Kisten legte, weinte er stumm.
»Sollen wir ihn zu einem Arzt bringen?«, fragte George.
»Nein«, wisperte der Professor. »Keine Ärzte.«
»Aber Sie sind krank, Kingsley«, sagte Colette. »Sehen Sie sich doch nur an. Sie können nicht mal aufstehen.«
»Keine Ärzte«, wiederholte er. »Ich werde wieder gesund. Brauche nur ein bisschen Ruhe.« Dann zog er eine der Kisten an sich, hielt sie in den Armen, als würde er einen kleinen Menschen kosen, und schlief ein.
15
FRANNYS GEHEIMNIS
Silenus übernahm an Kingsleys Stelle die Aufgabe, die Eröffnungsnummer ihrer Vorstellung zu bestreiten. George hörte, er sei ein grandioser Monologist, der jedes Publikum verzaubern konnte, aber er hatte keine Gelegenheit, sich persönlich davon zu überzeugen; ihm, als einzigem
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